Sunday, January 22, 2023
Roland Busch: „Die Welt ist nicht so schwarz, wie sie gemalt wird“
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Roland Busch: „Die Welt ist nicht so schwarz, wie sie gemalt wird“
Artikel von Sven Astheimer • Gestern um 17:45
Herr Busch, der Krieg in der Ukraine, Inflation, Lieferkettenprobleme, Klimawandel – die großen Themen der Zeit haben das Weltwirtschaftsforum in Davos bestimmt. Wie herausfordernd wird das Jahr 2023 aus Ihrer Sicht?
Sicherlich, es gibt große Herausforderungen. Meine Wahrnehmung ist aber, dass die Welt nicht so schwarz ist, wie sie oft gemalt wird. Das sehen auch viele meiner Gesprächspartner so. Die Einschätzung entspricht unserem starken Wachstumsausblick von 6 bis 9 Prozent für Siemens im Geschäftsjahr 2023. Unser Auftragsbestand ist auf Rekordniveau, die Liefer- und Logistikketten erholen sich langsam, und selbst die Chipindustrie ist auf einem guten Weg. Das gibt schon Grund zum Optimismus.
Sind wir Deutschen zu skeptisch?
Ja, wir haben eine Neigung dazu. Wenn es Risiken und Chancen bei Veränderungen gibt, sehen wir zunächst die Risiken, während andere sagen: Lass uns die Gelegenheit nutzen. Kritisch zu sein ist per se nicht schlecht, weil es manchen Fehler verhindert. Aber in der heutigen Welt mit den rasanten Veränderungen ist es häufig der bessere Weg, erst mal loszulaufen, anstatt sich in den Keller zu reden und sich dann wieder herauszuarbeiten. Ich würde mir oft mehr Mut wünschen.
Wundert Sie das, nach drei Ausnahmejahren mit Pandemie und Energiekrise?
Nein, sicher nicht. Aber schauen Sie mal, was vor einem halben Jahr alles drohte von kalten Wohnungen bis zum Blackout. Nichts davon ist glücklicherweise passiert. Das hat die Politik in Summe sehr gut gemanagt, auch wenn im Rückblick einzelne Maßnahmen immer diskutiert werden können. Aber es war sehr richtig, so entschlossen zu handeln, statt sehenden Auges gegen die Wand zu fahren.
Der chinesische Vizepräsident hat in Davos Signale der Wiederannäherung gesendet. Hat die Globalisierung doch noch eine Chance?
Ich habe die Globalisierung nie aufgegeben. Sie wird und muss nur anders aussehen, als wir sie kennen. Diversifizierung und Resilienz werden eine weitaus größere Rolle spielen. China hat einen riesengroßen Markt, der weiter wachsen wird. Das Land versucht, seine Stärken auszubauen, so wie wir das auch tun müssen. Das große Thema ist der Wettbewerb zwischen den Großmächten USA und China: Wer hat militärisch, politisch, wirtschaftlich die Nase vorn. Wir in Europa müssen schauen, wo unser Platz ist.
Aber Chinas Regierung ist zunehmend rigide und hat das Land abgeschottet.
Das sehe ich wirtschaftlich nicht, weil sich China das nicht leisten kann. Kein Land auf der Erde kann heute allein Halbleiter produzieren, ohne die wiederum eine moderne Wirtschaft nicht funktioniert. Statt uns zu sehr in die Systemdiskussion zu vertiefen, sollten wir lieber unsere Hausaufgaben machen.
Sie rechnen also mit einem Comeback Chinas in die Weltwirtschaft, wenn Covid überstanden ist?
Ja, wir hoffen, dass die aktuelle Infektionswelle möglichst wenig Opfer für China bedeutet. Wenn so ein Virus auf eine relative ungeschützte Bevölkerung trifft, kann es sich exponentiell schnell verbreiten. Schätzungen zufolge wird die Pandemie China rund 2,5 Prozent Wachstum kosten. Danach kann China im Laufe des Jahres wieder zurück ins Spiel kommen. Das wäre für die Weltwirtschaft eine gute Nachricht.
Indien gilt mal wieder als neuer Hoffnungsträger. Sie haben gerade von dort einen gewaltigen Auftrag für 1200 Lokomotiven bekommen. Wie stehen die Chancen, dass das Land sein Potential ausschöpft?
Ich denke, gut. Die Regierung vergibt solche Aufträge wie an uns mittlerweile innerhalb eines halben Jahres. Das ist wirklich zügig. Die Investitionen in Infrastruktur und nachhaltige Technologien sind hoch. Indien profitiert ganz eindeutig vom Trend zur Diversifizierung der Lieferketten. Es ist vielleicht noch zu früh zu sagen, dass Indien die nächste große Wirtschaftsmacht wird. Aber die Chancen standen zumindest noch nie so gut wie heute.
Siemens verdient an den Spannungen der Wirtschaftssupermächte prächtig; wenn Amerikaner keine Technologie aus China mehr in ihrer kritischen Infrastruktur haben und die Chinesen unabhängig werden wollen, kommt man gerne zu Ihnen.
Wir sind einerseits ein internationaler Konzern, werden gleichzeitig aber in vielen Märkten wie ein lokales Unternehmen wahrgenommen, weil wir schon so lange dort sind. Wir produzieren lokal für lokale Märkte, sowohl in den USA als auch in China.
Das wird dann zum Problem, wenn mal wieder ein US-Präsident fordert, Sie sollen Farbe bekennen.
Ich glaube nicht, dass es Forderungen einer Entkopplung nach dem Motto „entweder die oder wir“ geben wird. Ich habe vor und in Davos mit vielen unterschiedlichen Leuten, auch aus Thinktanks, gesprochen, die sehen dafür auch keine Anzeichen. Wenn Sie sich die gewaltigen Wertströme zwischen beiden Blöcken ansehen, frage ich mich, wie das überhaupt gehen sollte. Was passieren kann, ist, dass die USA selektiv bestimmte Technologien auf die Liste setzen und ein Exportverbot nach China verhängen. Das ist bei einer hochkomplexen Maschine zur Chipherstellung aus den Niederlanden mit deutscher Technik schon passiert. Aber das wird selten sein, und es wird keinen Flächenbrand geben.
Auch Bundeskanzler Scholz hat in Davos gefordert, die Lieferketten resilienter zu machen. Was verstehen Sie unter diesem Trendbegriff konkret?
Das hat zwei Dimensionen für mich: Zum einen dürfen Sie nicht zu abhängig werden von einem einzigen Absatzmarkt, wie das für viele deutsche Unternehmen mit China der Fall war und auch noch ist. Zum anderen geht es um die Zahl der Zulieferer. Bekomme ich die Produkte im Zweifel auch woanders her, auch wenn ich vielleicht mehr zahlen muss, oder sind es kritische Teile, ohne die ich nicht mehr produzieren kann? Für die Diversifizierung des Marktzugangs brauchen Sie einen langen Atem. Eine Lieferkette können Sie schneller erweitern.
Was waren Ihre persönlichen Lehren, die Sie für Siemens aus der Chipkrise gezogen haben?
Heute würde ich sagen, dass wir etwas zu einseitig geleitet wurden von den Anforderungen des Kapitalmarkts, der von Quartal zu Quartal höhere Margen verlangt. Das führte für die allermeisten Unternehmen über einen langen Zeitraum dazu, dass Kostenoptimierung über allem stand. Die neue Resilienz hat ihren Preis, und den werden wir sehen. Auch die CO2-Reduzierung wird sich in höheren Kosten niederschlagen. Nach den Disruptionen der letzten drei Jahre blicken Unternehmen heute noch umfassender auf ihr Geschäft. So kann ich Ihnen heute viel genauer sagen, welche Abhängigkeiten wir auf welchen Märkten und bei welchen Lieferungen eingehen und wo es vielleicht kritisch wird. Da hat man vor drei Jahren noch nicht so genau hingeschaut.
In Deutschland ist seit Jahresbeginn das Lieferkettengesetz in Kraft, wonach Unternehmen Verantwortung für alle Lieferanten übernehmen. Warum läuft die Wirtschaft Sturm gegen die Umsetzung von EU-Vorgaben?
Weil man sich fragen muss, ob es gut ist, wenn Deutschland wieder einen obendrauf setzt bei den Regeln und von allen am restriktivsten ist. Inhaltlich ist es natürlich vollkommen richtig, auf die Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards zu achten. Wir tun das auch in unseren Standorten weltweit, implementieren klar definierte und auditfähige Richtlinien. Es gibt so viele Herausforderungen, da hätte ich mir mehr Augenmaß gewünscht: Gebt den Unternehmen Zeit, Erfahrungen zu sammeln, und fahrt den Schutz schrittweise hoch.
Kann Technologie gerade mittelständische Unternehmen bei dieser komplexen Aufgabe unterstützen?
Was die CO2-Reduzierung angeht, haben wir mit anderen zusammen die Plattform Estanium und unsere Lösung Sigreen aufgebaut. Dort können Unternehmen nach einem festgelegten Standard ihre Werte berichten. Das ist mit Blockchain-Technologie sicher dokumentiert und wird auch testiert. Wenn viele Unternehmen mitmachen, dann lohnt sich das. Estanium ist übrigens ein offenes System, für alle zugänglich.
Regulieren wir uns in Deutschland und Europa generell zu Tode?
Das ist schon etwas dran. EU-Data Act, der Act für Künstliche Intelligenz, die aktuelle Novelle des Wettbewerbsgesetzes – alles Fälle, die im Kern gute Ziele verfolgen, die Regulierung aber letztendlich über das Ziel hinausschießt.
Woran machen Sie das fest?
Wenn die Definition für Künstliche Intelligenz auch ganz normale Software umfassen soll, frage ich mich, was das soll. Und die Auflagen für Lieferanten einer Maschine für die damit erzeugten Daten gemäß dem Data Act sind einfach Quatsch. Das ist zum Schutz des privaten Endkunden sinnvoll, aber nicht bei Geschäftspartnern.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in Davos angekündigt, die Förderung von Produktionsstätten nicht mehr auf Top-Technologie zu beschränken und außerdem Genehmigungsverfahren zu beschleunigen.
Mit beidem liegt sie absolut richtig und spricht mir aus der Seele. Wir brauchen in Deutschland und Europa nicht so viele Hightech-Chips, wie sie etwa in Smartphones verbaut werden, sondern einfachere, aber robustere Chips, etwa für die Autoindustrie. Und zwar in großer Stückzahl. Dafür brauchen wir aber neue Werke.
Der Bund fördert mit 7 Milliarden Euro also den Aufbau der Megafabriken von Intel in Magdeburg, deren High-End-Chips am hiesigen Bedarf vorbeigehen?
Nein, beides ist richtig. Es ist wunderbar, dass Intel sich zu diesem Schritt entschlossen hat. Aber wir müssen dafür sorgen, dass wir den rasant wachsenden Bedarf unserer Industrie langfristig decken können.
Und die Genehmigungen bekommen Sie anderswo schneller?
Fakt ist: In vielen Regionen der Welt, gerade auch in Asien, geht es deutlich schneller. Dort wird zügig entschieden und dann gebaut.
Auch mal über die Köpfe der Bevölkerung hinweg?
In den meisten Ländern werden die Betroffenen genauso gehört wie hier. Aber es spielt eine viel größere Rolle als in Deutschland, ob etwa Infrastruktur für Transport oder zur Energieversorgung gebraucht wird. Dann geht das Gemeinwohl vor. Wenn wir weiter über jede einzelne Windmühle diskutieren oder gar klagen, werden wir unsere Ziele für die Energiewende nicht erreichen.
Macht Ihnen der Bau des Flüssiggasterminals in Wilhelmshaven in Rekordzeit nicht Mut?
Daraus ergibt sich die Frage, ob wir immer erst eine Megakrise brauchen, bis wir Tempo beim Ausbau von Infrastruktur machen. Ohne den Krieg von Russland gegen die Ukraine mit den gravierenden Folgen für unsere Energieversorgung wäre Wilhelmshaven in der Geschwindigkeit nie gebaut worden. Da gehe ich jede Wette ein.
Deutsche Leitindustrien wie Automobil oder Chemie stehen gehörig unter Druck im Wettbewerb mit China und den USA, das allein fast 400 Milliarden Dollar für Zukunftstechnologien ausgibt. Wie ernst ist die Lage?
Ich würde das sehr ernst nehmen. Die Chinesen haben einen klaren Anspruch auf Technologieführerschaft formuliert und etwa mit CATL den größten Batteriehersteller der Welt geschaffen. Ich finde es aber gut, wenn CATL jetzt in Deutschland auch ein Werk baut und für Wachstum sorgt. Für Deutschland gibt es eine große industrielle Aufgabe, die wir meistern müssen: die Verbindung von realen und digitalen Welten. Digitale Zwillinge schaffen und weiterentwickeln. Wer das schafft, erhält eine wahnsinnige Wettbewerbsfähigkeit.
Siemens bringt die Industrie ins Metaversum?
Ja, genau, das ist unser Plan. Maschinen bauen können wir schon hervorragend. Wir haben in den letzten 15 Jahren rund 14 Milliarden in Software investiert. Bei der IT holt Deutschland auch insgesamt auf. Wir müssen ein komplettes Ökosystem aufbauen und brauchen Partner wie SAP oder Nvidia. Wenn wir das schaffen, könnten wir gegenüber den chinesischen Wettbewerbern wieder ein paar Jahre Vorsprung herausholen. Dann hätten wir auch die Chancen, mal ein oder zwei große Plattformen in Deutschland und Europa zu bauen. Bislang haben dieses Rennen in der Digitalisierung die Amerikaner und Chinesen gemacht. Aber diesmal bin ich ganz optimistisch, dass wir das schaffen können.