Monday, January 30, 2023

„Die Arbeit ist für viele unerträglich geworden“: In Frankreich wächst der Widerstand gegen die Rentenreform

Tagesspiegel „Die Arbeit ist für viele unerträglich geworden“: In Frankreich wächst der Widerstand gegen die Rentenreform Artikel von Andrea Nüsse • Vor 7 Std. Bei der Debatte über einen späteren Renteneintritt geraten die Arbeitsbedingungen in den Fokus. Vor dem Streik am Dienstag bröckelt im Parlament der Rückhalt für Macrons Reformprojekt. Auch junge Franzosen protestieren gegen einen späteren Beginn der Rente. Die Nervosität in der französischen Regierung wächst. Während am Montag die ersten Diskussionen über die 5000 Änderungsvorschläge zur vorgeschlagenen Anhebung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre in Arbeitsgruppen in der Nationalversammlung begannen, bereiten sich die Gewerkschaften auf den zweiten großen Streiktag am Dienstag vor. Und je mehr Premierministerin Elisabeth Borne die „Ausgewogenheit“ der geplanten Rentenreform erklärt, desto mehr wächst die Ablehnung in der Bevölkerung. 72 Prozent lehnten sie in der jüngsten Umfrage des Instituts Elabe von vergangener Woche ab. Das sind 6 Prozent mehr als noch eine Woche zuvor, 13 Prozent mehr als noch vor zwei Wochen. Und die Zustimmung zur Reform durch die 62 Abgeordneten der konservativen Partei „Les Republicains“, auf die Macron angewiesen ist, scheint immer unsicherer. Vorarbeit der Gelbwesten-Proteste Diese Ablehnung ist für die Politologin und Geschichtssoziologin, Magali Della Sudda, keine Überraschung. „Die Reformen von Präsident Macron wie die Abschaffung der Reichensteuer und die Anhebung der Steuern auf Renten haben, verstärkt durch die Folgen der Covid-Krise, das Gefühl der Ungerechtigkeit in der Bevölkerung stetig wachsen lassen.“ Dass Arbeiter, die sehr früh ins Berufsleben einsteigen, nun auch länger arbeiten sollen, wird als ungerecht empfunden. Della Sudda, die ein Forschungsprojekt zu der Bürgerbewegung der „Gelbwesten“ am Centre Émil Durckheim in Bordeaux leitet, sieht die jetzige Streikbereitschaft als Fortsetzung dieser Proteste: „Schon vor der Pandemie haben Gelbwesten und Gewerkschaften gemeinsam für die Interessen der Schlechtergestellten demonstriert“. Die Reformen von Präsident Macron haben das Gefühl der Ungerechtigkeit in der Bevölkerung stetig wachsen lassen. Magali Della Sudda, Politologin Die „Gelbwesten“ hatten ursprünglich gegen die Erhöhung der Benzinpreise protestiert, die besonders Einkommensschwächere und die Landbevölkerung traf. Die über soziale Medien organisierten Proteste hatten Frankreich von November 2018 bis Frühjahr 2019 erschüttert. Diese empfundene Ungerechtigkeit werde jetzt bei der Rentenreform, die Arbeiter und Frauen mit unterbrochenen Erwerbsbiographien besonders hart treffe, wiedererkannt, sagt Della Sudda. Doch das zentrale Reformprojekt von Präsident Emmanuel Macron hat das Schlaglicht auf eine andere Frage geworfen, die mittlerweile die Debatte in Frankreich beherrscht: Die wachsende Unzufriedenheit der Franzosen mit dem Arbeitsleben und ihren Arbeitsbedingungen. Die teilweise schlechteren Arbeitsbedingungen seien dokumentiert, sagt die Soziologie-Professorin Dominique Méda von der Universität Paris Dauphine. Daher werde es „als Provokation“ empfunden, die Lebensarbeitszeit zu verlängern, bevor die Bedingungen für die Arbeit verbessert würden. Viele Franzosen leiden unter Arbeitsbedingungen Insbesondere die Europäische Erhebung über Arbeitsbedingungen der EU-Agentur Eurofund von 2021, bei der 70.000 Menschen in 36 Ländern befragt wurden, habe gezeigt, dass Frankreichs Arbeiter und Angestellte mehr unter schlechten Arbeitsbedingungen litten als andere Europäer – sowohl unter schweren körperlichen Anstrengungen als auch psychischen. Beispielsweise gaben in Frankreich 43 Prozent der Befragten an, oft oder immer schwere Lasten tragen zu müssen – in den Niederlanden waren es nur 30 Prozent. 2018 hatte Präsident Macron zudem vier von zehn Kriterien für körperlich besonders belastende Arbeiten, die bei der Rente berücksichtigt werden, abgeschafft. Laut der EU-Umfrage stufen sich nur 45 Prozent der Franzosen als gut bezahlt ein – in Deutschland waren es 86 Prozent. Laut Eurostat lag das Medianeinkommen in Deutschland 2020 bei 26.555 Euro und in Frankreich bei 21.739 Euro. Aber auch psychische Belastungen durch fehlende Autonomie, Diskriminierung und fehlende Mitsprache im Unternehmen wurden in Frankreich überproportional angegeben. Nachhaltige Arbeitsbedingungen sind die Voraussetzung für jede Rentenreform. Dominique Méda, Soziologin Verantwortlich macht Dominique Méda dafür auch die Schwäche der französischen Gewerkschaften. „Die Arbeit ist für viele unerträglich geworden“, und das sei gut dokumentiert. „Nachhaltige Arbeitsbedingungen sind daher die Voraussetzung für jede Rentenreform“, sagt Méda, die das interdisziplinäre Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften IRISSO leitet. Der Philosoph Michael Foessel sieht in der politischen Auseinandersetzung um den Rentenbeginn den Kampf „um die Zeit, die zu einer raren Ware geworden ist“. In einer Kolumne in „Libération“ schreibt er, die Zeiten des Lockdown hätten viele Franzosen zum Nachdenken über ihre Arbeit gebracht. Soll man immer mehr produzieren in Zeiten des Klimawandels? Wie sinnstiftend ist die Arbeit, in der das Management immer mehr Raum einnimmt? Abschließend stellt er eine Frage, die wie eine Antwort wirkt: „Und wenn wir anders arbeiteten?“ Sollte Macron die Reform trotz der massiven Ablehnung umsetzen, würden die Menschen das als „gewaltsam“ empfinden, sagt die „Gelbwesten“-Spezialistin Della Sudda. „Damit würde er das Land erneut spalten“, fürchtet sie.