Monday, October 31, 2022

Enttäuscht von den Grünen? Eine Zwischenbilanz

ZEITjUNG Enttäuscht von den Grünen? Eine Zwischenbilanz Katja Stenzel - Vor 7 Std. Zu viele Waffen an die Ukraine, zu wenig Sorge um das Klima und die Energiekosten der Bürger*innen: Ist die Kritik an den Grünen legitim? In einer Zeit, die von einem Krieg in Europa und nach wie vor vom Klimawandel geprägt ist, haben die Regierungsparteien keinen leichten Job. Insbesondere die Grünen werden für Waffenlieferungen, Energiekrise und mangelnden Klimaschutz scharf kritisiert. Wie stichhaltig sind die Argumente? Aktueller Krisenherd, Akt 1: Waffenlieferungen „Wenn ich dieses Versprechen an die Ukrainer gebe (…), dann möchte ich auch liefern – egal, was meine deutschen Wähler denken.“ Dieser Satz von unserer Außenministerin Annalena Baerbock hat vor einiger Zeit für Empörung gesorgt – genauso, wie es bereits die Waffenlieferungen an die Ukraine an sich getan haben. Und allem voran: die regelrechte Begeisterung, mit der die Grünen mitgezogen haben. Denn wenn eine Partei, die sich nicht selten für Pazifismus und Diplomatie ausgesprochen hat, einen anderen Weg geht, scheint das deutlich schlimmer zu sein als wenn Parteien, die von vornherein weniger pazifistisch eingestellt sind (wer die Anspielung nicht verstanden hat: FDP, SPD), begeistert Waffen an andere Staaten liefern. Die Grünen waren wohl bis vor kurzem für viele die Personifikation des Pazifismus. Umso erstaunlicher ist es, dass die Anhänger*innen der Grünen den Waffenlieferungen verglichen mit den Anhänger*innen anderer Parteien prozentual am stärksten zustimmen. Außerdem waren es auch die Grünen, die 2001 gemeinsam mit der SPD beschlossen haben, in den Afghanistan-Krieg zu ziehen. Zudem hat Annalena Baerbock bereits während des Wahlkampfes betont, für Europa zu stehen. Und jeder, der jemals einen Blick ins Parteiprogramm der Grünen geworfen oder sich eine x-beliebige Rede angehört hat, weiß auch, dass die Grünen vor allem für Europa stehen. Wie überraschend ist es also überhaupt, dass sich eben jene Partei nun für Waffenlieferungen an die Ukraine – ein Land, das für seine Annäherungsversuche an Europa von Russland hart bestraft wurde – einsetzt? Gutheißen muss man die Waffenlieferungen natürlich trotzdem nicht. Denn obwohl es sich zweifelsohne um einen Angriffskrieg von russischer Seite handelt und die Ukraine das Opfer dessen ist, sollten diplomatische Lösungsversuche eventuell trotzdem nicht zu kurz kommen – auch mit Blick auf das, was eben jene Wähler*innen, von denen Baerbock spricht, aktuell finanziell stemmen müssen. Aktueller Krisenherd, Akt 2: Energiekrise Denn: Wir haben kein Geld. Wähler*innen der Grünen sind zwar im Schnitt wohlhabender als die Basis anderer Parteien, aber selbst Grünen-Wähler*innen dürften sich an den aktuellen Preisen für praktisch alles nicht nur stören, sondern teilweise auch an ihnen zu Grunde gehen. Naja, zumindest die Studierenden und jungen Familien unter ihnen. Denn die hören mitunter auf zu heizen oder ernähren sich fünf Tage am Stück von denselben Nudeln mit derselben Soße – weil sie das Gefühl haben, sich keinen höheren Lebensstandard leisten zu können. Und warum? Weil die Entlastungspakete bei weitem nicht ausreichen, um das zu decken, was durch die Energiekrise für uns alle an Mehrkosten entsteht. Die Regierung könnte also entweder dafür sorgen, dass die Bürger*innen Entlastungspakete erhalten, die auch tatsächlich entlastend wirken und mehr als eine nette Geste sind. Und die Grünen als soziale Partei könnten sich doch bestimmt dafür einsetzen. Das wäre ganz großartig, dankeschön! Falls daraus – überraschenderweise – nichts werden sollte, wäre es vielleicht doch eine Option, auf Diplomatie zurückzugreifen. Denn jeder normaldenkende Mensch hält es zwar für absolut gerechtfertigt, dass die Regierung wegen der aktuellen Situation in Sachen Energieversorgung nicht auf Russland angewiesen sein will. Aber ist es wirklich so viel besser, stattdessen auf Saudi-Arabien angewiesen zu sein? Denn Saudi-Arabien ist das Land, mit dem wir aufgrund der Energieengpässe aktuell gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, um einen Teil von deren Öl abgreifen zu können. Und ganz nebenbei ist Saudi-Arabien auch ein Land, in dem keine Religionsfreiheit herrscht, in dem Homosexualität unter Todesstrafe steht, in dem Frauen einen männlichen Vormund haben und auch abgesehen davon keinerlei Rechte genießen. Spiegelt dieses Land etwa unsere freiheitlich-demokratischen Werte und unsere ablehnende Haltung gegenüber Gewalt wieder? Dauerkrisenherd: Haben die Grünen das Klima vergessen? Ein Punkt, der vor allem jene entrüstet, die den Grünen thematisch nahestehen, ist die scheinbare Vernachlässigung unserer Klima- und Umweltprobleme. Auch das hat selbstverständlich mit der Energiekrise zu tun. Aufgrund der aktuellen Lage wurden sowohl die Laufzeiten für Atom- als auch für Kohlekraftwerke verlängert. Was einige ranghohe Grünen-Politiker*innen wie Ricarda Lang kritisieren, sei laut Habeck eine durch die Krise bedingte Notwendigkeit. Kritik dafür hagelt es von allen möglichen Organisationen und Interessengruppen, die sich für Klimaschutz einsetzen – von Fridays For Future bis hin zur Deutschen Umwelthilfe. Der Geschäftsführer letzterer, Jürgen Resch, kritisiert vor allem, dass die Verlängerung jener Verträge nicht wie eine durch die Energiekrise bedingte Übergangs-, sondern beinahe wie eine Langzeitlösung daherkommt. Er wirft den Grünen vor, dass sie nicht stark genug für das Erreichen ihrer selbstgesteckten ökologischen Ziele eintreten. Nur: Was genau haben wir uns eigentlich von den Grünen erhofft? Natürlich darf man aber nicht vergessen, dass die Grünen selbstverständlich nicht allein regieren. Was aktuell an Politik betrieben wird, ist also mitnichten ausschließlich den Entscheidungen und Überzeugungen der Grünen geschuldet. Genau das scheinen viele Menschen aber immer wieder zu vergessen: Sie glauben, sobald eine Partei Teil einer Koalition ist, würde sich alles ändern. De facto haben die Grünen aber gerade einmal 118 der 416 Sitze im Bundestag inne, aus denen unsere Regierung aktuell besteht. Das ist weniger als ein Drittel. Dass nicht alles entsprechend den Wahlversprechen und dem Parteiprogramm umgesetzt werden kann, ist also klar. Dennoch gibt es allerdings so etwas wie einen Koalitionsvertrag. Hinsichtlich dieses Vertrages kann man nun einerseits bemängeln, dass man sich an ihn halten sollte, wenn er einmal steht – was hinsichtlich Kohle und Atomkraft aktuell ja eindeutig nicht der Fall ist. Andererseits kann man kritisieren, dass bereits die Verhandlungen, die zu eben jenem Koalitionsvertrag geführt haben, von Seiten der Grünen zu schwach geführt wurden. Und genau darum scheint es vielen Menschen auch zu gehen: um die Vehemenz, mit der für Grundüberzeugungen eingestanden wird. Die FDP stellt schließlich den kleinsten Teil der Regierung dar – und trotzdem scheint Christian Lindner deutlich härter verhandeln zu können als Robert Habeck und Annalena Baerbock. Die Menschen, die die Grünen gewählt haben, scheinen sich hintergangen zu fühlen – denn aktuell kann man nun wirklich nicht behaupten, dass viel für den Umwelt- und Klimaschutz getan wird. Die Ernsthaftigkeit, mit der die Grünen für ihr programmatisches Alleinstellungsmerkmal einstehen, scheint aktuell mehr als fraglich zu sein. Aber: Wer ist überhaupt enttäuscht von den Grünen? Eine Frage darf man inmitten der ganzen Kritik jedoch nicht außer Acht lassen: Wer hat überhaupt das Recht, von den Grünen enttäuscht zu sein? Doch eigentlich nur diejenigen, die die Grünen gewählt haben, oder ihnen politisch zumindest relativ nahestehen, oder? Warum aber lässt mich das Gefühl nicht los, dass es sich bei denjenigen, die jetzt vorgeben, „ja so enttäuscht“ von den Grünen zu sein, nicht ausschließlich um jene handelt, die sie gewählt haben oder grundsätzlich mit ihnen sympathisieren? Vielmehr handelt es sich wohl auch zu einem beachtlichen Teil um Konsorten wie Boomer-Jochen, der in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten in seinem stillen Kämmerlein stets fleißig auf die Gutmenschlichkeit der Grünen geschimpft hat. Es ist derselbe Boomber-Jochen, der jetzt auf dieselbe Partei schimpft – mit dem Argument, dass deren Mitglieder jetzt wohl ihre Gutmenschlichkeit abgelegt haben, weil sie Waffen an die Ukraine liefern, anstatt sich trotz des Angriffskriegs Russlands weiterhin für uneingeschränkten Pazifismus auszusprechen. Darüber, dass die Grünen nun aber zwangsläufig mitziehen, was die Beschlüsse hinsichtlich Kohle- und Atomkraftwerken angeht, wird von Boomer-Jochen und seinen Freunden (natürlich ausschließlich männlich) hingegen kein Wort verloren. Denn das ist ja tatsächlich mal ein Punkt, der ganz gut in deren politische Ideologie passt. Also: Psst.