Saturday, October 29, 2022

Chris Grey zu Großbritannien: "Die Konservative Partei ist kaum noch zu führen"

Chris Grey zu Großbritannien: "Die Konservative Partei ist kaum noch zu führen" Bettina Schulz - Vor 2 Std. Rishi Sunak ist neuer Parteichef der Torys. Doch er wird die seit dem Brexit-Referendum tief gespaltene Partei nicht einen können, sagt Wirtschaftsexperte Chris Grey. Nach nur sechs Wochen im Amt hat Liz Truss das Amt der britischen Premierministerin Großbritanniens wieder aufgegeben. Ihr Nachfolger Rishi Sunak übernimmt von ihr nicht nur ein Land, das mit vielen Krisen zeitgleich zu kämpfen hat. Er muss sich vor allem mit der Spaltung innerhalb der Torys auseinandersetzen. Früher habe die Konservative Partei für Kontinuität, Stabilität und fiskalpolitische Verantwortung gestanden, "aber dann kamen die Brexit-Hardliner", sagt Chris Grey, emeritierter Professor für Organization Studies an der Londoner Universität Royal Holloway. Sie hätten diese Werte über den Haufen geworfen. ZEIT ONLINE: Herr Grey, diese Woche hat Rishi Sunak das Amt des britischen Premierministers übernommen. Kann er die Politik in ruhigere Bahnen lenken? Chris Grey: Er ist sicherlich seriöser und moralisch verantwortlicher als Boris Johnson, arbeitet hart, ist im Umgang mit der Ministerialbürokratie geschickter als seine Vorgängerin Liz Truss. Sunak hätte in seiner Antrittsrede die Probleme in der Politik oder die Meinungsdifferenzen in der Partei sicherlich klarer ansprechen können. Er macht einen vernünftigen, kompetenten Eindruck. Neben seiner Persönlichkeit sind auch die Voraussetzungen wichtig, unter denen er handeln muss. Die haben sich aber nicht geändert. Auch er wird den Widerstand innerhalb der Torys sehr bald zu spüren bekommen. ZEIT ONLINE: Aber der Partei und der Fraktion muss jetzt doch endlich an Stabilität gelegen sein. Grey: Natürlich hört man Rufe nach Einheit und Geschlossenheit. Dieser Wunsch wird vielleicht einige Wochen anhalten. Aber die Spaltung der Fraktion ist Realität. Sunak hat zwar ein Kabinett aufgestellt, in dem Vertreter aller Lager der Fraktion Ministerposten erhalten haben. Aber man darf nicht vergessen: Es gibt Freunde von Johnson, die es ihm verübeln, dass Sunak mit seinem Rücktritt dessen Sturz ausgelöst hat. Es wird Abgeordnete geben, die ihm die Demütigung von Liz Truss nicht verzeihen, deren Programm so scheiterte, wie es Sunak vorhergesagt hatte. Und es wird enttäuschte Abgeordnete geben, die sich Posten versprochen hatten und keine bekommen haben. Es wird nicht lange dauern, und die Einheit der Fraktion wird bröckeln. ZEIT ONLINE: In welchen inhaltlichen Punkten wird es Probleme geben zwischen dem Premier und der Fraktion? Grey: Da ist das Thema Einwanderung. Sunak hat die rechtskonservative Suella Braverman wieder als Innenministerin eingesetzt, die die Nettoeinwanderung im Land drastisch senken will. Andere Abgeordnete – vielleicht auch Sunak selbst – wollen jedoch das Wirtschaftswachstum stärken, was auch davon abhängt, dass für bestimmte Branchen mehr Arbeitskräfte ins Land gelassen werden. Oder nehmen wir die Ausgabenkürzungen, die wegen der fiskalpolitischen Situation wohl kommen werden müssen. Zahlreiche Abgeordnete, vor allem aus den nördlichen, ehemaligen Labourwahlbezirken, werden dagegen sein, dass zum Beispiel im Gesundheitswesen oder bei bestimmten Infrastrukturprojekten gespart wird. Der größte Test wird freilich in der Nordirland-Politik auf die Fraktion zukommen. ZEIT ONLINE: Im Streit um die Anwendungen der Brexit-Regelungen auf Nordirland erhofft sich die EU endlich eine Einigung. Grey: Ja, aber Sunak hat zwei harte Brexit-Anhänger, Chris Heaton-Harris und Steve Baker, in den Rollen des Nordirland-Ministers und des Staatssekretärs belassen. Wie schon in der Vergangenheit ist die Strategie der Regierung nicht klar. Steve Baker hatte sich vor Kurzem bei der EU für das frühere Verhalten der Regierung entschuldigt, hat aber dann der Sunak-Regierung gedroht, das geplante Gesetz zum Nordirland-Protokoll nicht fallen zu lassen. Das widerspricht sich. ZEIT ONLINE: Wie wird das nun weitergehen? Grey: Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder Sunak geht auf die EU zu, um die Handelsprobleme in Nordirland zu lösen. Akzeptiert er aber zum Beispiel die Vorschläge der EU, riskiert er eine Rebellion der Brexit-Ideologen, die in einer Einigung mit der EU einen Verrat sähen. Oder er hält an dem Gesetz zum Nordirland-Protokoll fest, brüskiert damit die EU und riskiert auf Dauer Handelssanktionen und eine weitere Verzögerung des Beitritts Großbritanniens zum EU-Forschungsprogramm Horizon. All dies würde seine Politik des Wirtschaftswachstums konterkarieren. Es wird wohl, egal welchen Weg Sunak letztlich einschlägt, wieder zu einer innen-, wenn nicht gar außenpolitischen Krise kommen. ZEIT ONLINE: Kann Sunak die Ideologen in der Partei nicht in die Schranken weisen? Grey: Das ist schwer. Es gibt einen harten Kern von Euroskeptikern, der der Konservativen Partei seit der Unterzeichnung des Maastricht-Vertrages im Jahr 1992 das Leben schwer macht und praktisch jede Regierung in Sachen EU unterminiert. Seither gibt es euroskeptische Rebellen, für die es fast schon Tradition ist, gegen die Regierung zu agieren, eine ständige Krisenstimmung zu schaffen, fast nihilistisch, fast anarchistisch. ZEIT ONLINE: Aber sie schaden damit doch dem Ruf der Partei – das sieht man bereits deutlich an den Wählerumfragen? Grey: Das interessiert sie nicht. Diese Ideologen sind mehr an ihrer eigenen Wahrheit interessiert als an konstruktiver Politik und dem Zustand der Partei. Sie haben eine Weltanschauung, die gilt, sie haben ein Programm, das sie fast schon in einer Art religiösem Eifer durchsetzen wollen. Sie fühlen sich berufen, diese ihre Weltanschauung durchzusetzen, selbst wenn die Partei darunter leidet. Für sie ist es wichtiger, ihre vermeintlich richtige Einstellung offen zu vertreten, als an der Macht zu sein. Das hat man früher eher von der politischen Linken gekannt. Jetzt sieht man dieses Festhalten an der vermeintlich richtigen Ideologie auf Seiten der Konservativen. ZEIT ONLINE: Widerspricht dies nicht den früheren Werten der Konservativen Partei? Grey: Absolut. Die Konservative Partei stand früher für Kontinuität, Stabilität und fiskalpolitischer Verantwortung. Die Konservativen lehnten ideologische Experimente ab, waren für eine moderate Politik. Aber dann kamen die Brexit-Hardliner und haben all diese Werte über den Haufen geworfen. Sie galten plötzlich nicht mehr. Plötzlich gilt nur noch die neue Wahrheit des erfolgreichen Brexits. Ich nenne dies den "Brexitismus". Da wird den Ministerialbeamten zum Beispiel gesagt, man wolle den Brexit ohne eine Grenze in der irischen See und ohne eine harte Grenze mitten in Irland. Wenn die Beamten dann sagen, dass das nicht geht, werden sie als EU-Anhänger beschimpft, als Verräter, die den "richtigen" Brexit torpedieren. ZEIT ONLINE: Aber beweist das Scheitern des politischen Programms von Liz Truss nicht, wie falsch diese Ideologen liegen? Grey: Man könnte meinen, dass das Scheitern der Politik von Truss ein Wendepunkt hätte sein können. Aber die Brexit-Ideologen werden sich dies nie eingestehen. Sie werden immer Gründe finden, warum es dieses Mal mit ihrem Programm nicht klappte. Sie entschuldigen das aktuelle Scheitern zum Beispiel damit, dass die neue Politik nicht richtig kommuniziert worden sei und dass die Kapitalmärkte diese nicht richtig verstanden hätten. Das Narrativ ist, man hätte nur alles besser erklären und langfristig durchsetzen müssen. Das ist eine Realität, die von Wünschen geprägt ist. ZEIT ONLINE: Aber Sunak ist nicht so ein ideologischer Fanatiker? Grey: Nein. Er glaubt an freie Märkte, an unternehmerische Chancen, und daran, dass das Vereinigte Königreiche in der Achse Silicon Valley – London –Mumbai eine neue Chance hat und nicht mehr nur in der Achse London –Paris – Berlin. Er ist jedoch auch Brexit-Anhänger, und das nicht nur aus politischen Karrieregründen. Aber er denkt wirtschaftlich rational. Dennoch: Sunak hat es in der Fraktion mit gut 100 Brexit-Hardlinern zu tun. Wenn von denen nur 40 Abgeordnete gegen die Regierung stimmen, ist die derzeitige Mehrheit der Torys von 80 Stimmen im Unterhaus wertlos. Damit können die Hardliner die Regierung unter Druck setzen. Wenn da die Regierung zum Beispiel ihren Haushaltsplan – wegen des Widerstandes in der eigenen Fraktion – nicht mehr durchsetzen kann, ist sie erledigt. Sunak muss daher vorsichtig sein. ZEIT ONLINE: Sunak wird also nicht vom Brexit abrücken? Grey: Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich teile nicht die Meinung von manchen EU-Anhängern, die nun Sunak auffordern, das Ruder herumzureißen und über einen Beitritt zum EU-Binnenmarkt oder eine Art Zollunion nachzudenken. Das ginge nur, wenn er die Brexit-Hardliner (in der sogenannten European Research Group ERG) konfrontierte und ihnen mit einer Neuwahl drohte. Nach dem Motto: Ihr haltet still, oder ihr werdet alle hinweggefegt. Das sehe ich nicht. Man darf auch nicht vergessen: Es sind nicht nur die libertären Ideologen, die hinter dem Brexit stehen. Es gibt eine breite Strömung, die mit Nationalismus und einer guten Portion Ausländerfeindlichkeit Wähler für den Brexit begeistert hat. Wenn es nur die Ideologen gewesen wären, wäre es einfacher gewesen, sie zu konfrontieren. ZEIT ONLINE: Aber wie soll Sunak dann regieren? Grey: Die Konservative Partei ist meiner Ansicht nach derzeit kaum noch zu führen, sie ist sozusagen unleadable. Egal, welcher Vorsitzende kommt, er kann die seit dem Brexit-Referendum tief gespaltene Partei – und Fraktion – nicht leiten. Es ist kein Zufall, dass Großbritannien seit 2016 nun schon den fünften Premierminister hat. Davor gab es fünf Premierminister und Premierministerinnen auf dreißig Jahre. ZEIT ONLINE: Wann darf denn über die Wahrheit gesprochen werden, dass der Brexit ein Fehler war? Grey: Die Öffentlichkeit weiß dies bereits. Das sieht man an den Umfragen. Aber die Parteien sprechen nicht darüber. Die Fraktion der Konservativen Partei konnte sich ja abgesehen von dem Ruf "Get Brexit Done" auf kaum etwas anderes einigen. Die Labourpartei wiederum hat Angst, als "Volksfeind" beschimpft zu werden, wie dies die Boulevardzeitung Daily Mail ja 2016 bereits getan hat. Das hat vielen Politikern Angst eingejagt und ist zum Beispiel einer der Gründe, warum die Konservativen und Labour über das Versagen des Brexits schweigen. ZEIT ONLINE: Dabei sprechen die Fakten doch für sich – zum Beispiel der wirtschaftliche Abstieg seit dem Austritt aus der EU. Grey: Eigentlich ja. Die Wirtschaft wird sich schlechter entwickeln. Die neuen Handelsverträge bringen dem Land weniger ein, als das Vereinigte Königreich durch den Bruch mit der EU verloren hat. Aber diese Fakten zählen bei vielen Brexit-Anhängern nicht. Sie werden immer volkswirtschaftlichen Betrachtungsweisen finden, die das Gegenteil beweisen sollen. Und je länger der Brexit zurückliegt, desto mehr werden die einstigen Versprechen vergessen, desto schwieriger wird es, die Kausalität zwischen dem Brexit und den Kosten nachzuweisen. Ohnehin werden viele Brexit-Anhänger immer sagen: Das war der Preis, den es wert war, für die Souveränität zu zahlen. ZEIT ONLINE: Wie könnte eine Annäherung Großbritanniens oder gar eine Rückkehr des Landes in die EU aussehen? Grey: Ich glaube, die Konservative Partei müsste erst einmal auf längere Zeit in der Opposition verschwinden. Sunak kann vielleicht vorsichtig die schärfsten Forderungen der Ideologen zurückstellen und so die Wirtschaft entlasten. Er könnte zum Beispiel darauf verzichten, dass Großbritannien – als Ersatz für die EU-Konformitätserklärung – eine eigene britische Konformitätserklärung einführt. Vielleicht schafft er eine Einigung mit der EU beim Thema Nordirland. Aber ich habe wenig Hoffnung. ZEIT ONLINE: Würde sich das unter einer Labourregierung ändern? Grey: Eine Labourregierung würde sicherlich sofort den Ton gegenüber der EU ändern und mehr Annäherung schaffen. Vielleicht kann dann auch offen über die Konsequenzen und Kosten des Brexits gesprochen werden. Labour könnte das Thema Nordirland lösen, wenn es bis dahin immer noch keine Einigung gäbe. Das würde Großbritannien den Weg öffnen, wieder am EU-Forschungsprojekt Horizon teilzunehmen. In kleinen Schritten würde sich die Stimmung ändern, zusammen mit der Demografie: Die ältere Brexit-Generation stirbt aus, die Jüngeren sind – wenn sie ihre Meinung nicht ändern – eher EU-freundlich. ZEIT ONLINE: Wie lange würde dies dauern? Grey: Das braucht Zeit. Zu viele Menschen aus Großbritannien, die wieder beitreten wollen, denken nicht an die Perspektive der EU. Man kann nicht erwarten, dass die EU Großbritannien wieder aufnimmt, es sei denn, es gäbe hierfür eine klare und nachhaltige Unterstützung. Anderenfalls gibt es für die EU keine Garantie, dass sich die Meinung in Großbritannien nicht plötzlich wieder ändert. Vielleicht unternimmt die nächste britische Regierung erst einmal kleinere Schritte der Annäherung. Am Ende dieser Regierungszeit wäre man schon im Jahr 2030. Dann folgten vielleicht mehrere Jahre Meinungsumfragen, die eine starke Unterstützung für einen Wiederbeitritt zeigen könnten. Dann vielleicht könnte ein Referendum abgehalten werden, das, sagen wir, 66 Prozent Unterstützung für einen Wiederbeitrittsantrag anzeigte. Dann müssten Beitrittsgespräche vor dem endgültigen Wiederbeitritt geführt werden. Bis dahin wäre es wahrscheinlich 2040, wenn nicht später. ZEIT ONLINE: Das klingt sehr vorsichtig. Grey: Vielleicht ist eine Rückkehr Großbritanniens in die EU auch gar nicht mehr möglich. Vielleicht gründet sich nun langsam die neue Europäische Politische Gemeinschaft, die eine Variante bietet, mit mehr Distanz am europäischen Projekt teilzunehmen. Die Lage in der Ukraine hat vieles verändert.