Tuesday, January 2, 2024
MILLIARDEN FÜR BIONTECH
MILLIARDEN FÜR BIONTECH
Christian Kerl
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrer jüngsten Rede im EU-Parlament in Straßburg. Auch im Parlament wird überwiegend vermutet, dass von der Leyen für eine zweite Amtszeit kandidiert.
BRÜSSEL Die EU-Kommissionschefin zögert mit der Bewerbung für eine zweite Amtszeit. Denn im Europawahljahr 2024 droht Ärger wegen eines Deals.
Ein gigantischer Milliarden-Deal für Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer hat für EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ausgerechnet im Europawahljahr 2024 ein juristisches Nachspiel. Von der Leyen könnte vom obersten europäischen Gericht gezwungen werden, ihre Handy-Textnachrichten zu dem beispiellosen Geschäft offenzulegen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) will zügig über eine Klage der US-amerikanischen Zeitung „New York Times“ entscheiden, die von der Kommission Einsicht in die SMS auf dem Präsidentinnen-Handy verlangt.
Den Mega-Deal über bis zu 1,8 Milliarden Biontech-Impfdosen für 35 Milliarden Euro hatte von der Leyen laut Gutachten des Europäischen Rechnungshofs persönlich eingefädelt – in vertraulichen Vorverhandlungen mit dem Chef des US-Pharmakonzerns Pfizer, Albert Bourla, im Frühjahr 2021, was den Prüfern zufolge nicht den Regeln entsprach. Doch verweigert von der Leyen selbst dem Rechnungshof Einblick in die Gesprächsabläufe. „Der Öffentlichkeit werden bis heute Informationen über die Bedingungen des größten Liefervertrags in der Geschichte der EU vorenthalten“, erläutert eine Sprecherin der „New York Times“ die Klage.
Die Verhandlung vor dem EuGH wird die Aufmerksamkeit auch auf die Untersuchungen weiterer Justizbehörden richten: Die Europäische Staatsanwaltschaft ermittelt schon seit 15 Monaten wegen der Beschaffung des Corona-Impfstoffs durch die Kommission, das Ergebnis wird für die ersten Monate 2024 erwartet. Bei der belgischen Justiz hat der Handelsexperte und Lobbyist Frederic Baldan Strafanzeige gegen von der Leyen wegen des Vorwurfs der Korruption und Dokumentenvernichtung im Zusammenhang mit dem Mega-Deal und den SMS eingereicht.
Von der Leyen vor zweiter Amtszeit – Vorwürfe zur Unzeit
Und ebenfalls vor einem belgischen Gericht wird eine Verhandlung Anfang dieses Jahres dokumentieren, wie verärgert eine Reihe vor allem osteuropäischer Staaten über die Konditionen des umstrittenen Biontech-Deals sind. Pfizer hat sich zwar nach heftigen Protesten bereit erklärt, die Lieferfrist bis 2027 zu strecken und die Liefermenge zu reduzieren – für jede stornierte Dosis muss aber nach Angaben von Insidern eine Gebühr bezahlt werden. Das hat den Unmut vieler EU-Länder kaum gedämpft. Pfizer hat Polen und Ungarn verklagt, weil sie die Bezahlung für nicht benötigte Impfstoffdosen strikt ablehnen. Es geht um Milliarden Euro.
Die juristischen Corona-Nachwehen ereilen von der Leyen zur Unzeit: im Jahr der Europawahl. In Kürze muss sie erklären, ob sie sich für eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin bewirbt. Am 7. März wird von der Leyens EVP-Parteienfamilie bei einem Konvent in Bukarest ihre Spitzenkandidatin zur Europawahl ausrufen, deutlich im Vorfeld muss intern Klarheit herrschen. In Brüssel gingen Parteifreunde, Diplomaten und Kommissionsbeamte bislang davon aus, dass von der Leyen weitermachen möchte bis 2029 – und bei einer Kandidatur durchaus gute Chancen auf eine Wiederwahl hätte.
Sie hat den „Green Deal“ mit ehrgeizigen Klima- und Umweltgesetzen auf den Weg gebracht, sie demonstriert im Ukraine-Krieg den geopolitischen Ehrgeiz der EU und spielt beim Krisenmanagement der Union eine wichtige Rolle. Als „einflussreichste Frau Europas“ wird von der Leyen von Diplomaten gelobt. Allerdings beklagen ausgerechnet Parteifreunde in der EVP, dass sie konservative Themen und Positionen vernachlässigt hat. Von der Leyen versucht jetzt, die Risse im eigenen Lager zu kitten – und hüllt sich seit Monaten in Schweigen, ob sie noch einmal antreten will als Chefin der mächtigen Brüsseler Behörde.
Statt von der Leyen: Macron bringt anderen Kandidaten ins Spiel
In ihrem Umfeld wird die unerwartete Zögerlichkeit der Präsidentin damit begründet, dass sie so lange wie möglich ungestört vom Wahlkampf ihre Amtsgeschäfte führen wolle. Doch muss von der Leyen zur Jahreswende akzeptieren, dass eine Kandidatur kein Selbstläufer wird – es bleibt ein Risiko der Niederlage. Der juristische Ärger um die Impfstoffbeschaffung ist ja nur ein Problem, das ihre Bemühungen um eine Wiederwahl überschatten könnte.
Kürzlich sorgten Berichte für Aufsehen, dass sich der französische Präsident Emmanuel Macron für den früheren italienischen Premier Mario Draghi als nächsten Kommissionschef stark mache. Von der Leyen könne dann ja Nato-Generalsekretärin werden. Der Vorschlag wäre brisant, denn von der Leyen ist nur ins Amt gekommen, weil Macron sie 2019 überraschend ins Spiel brachte.
Der französische Präsident Emmanuel Macron (links) hat Berichten zufolge den früheren italienischen Premier Mario Draghi (rechts) als nächsten EU-Kommissionspräsidenten ins Gespräch gebracht.
Nun Draghi? Der 76-jährige Ökonom ließ in Rom schnell klarstellen, dass er kein Interesse an dem Top-Job hat. Der Elysee-Palast sah dagegen keinen Anlass, die Spekulationen zu stoppen, und hüllte sich auf Anfragen in Schweigen. So wurde daraus eine stille Botschaft, die sich mit der Einschätzung von Eingeweihten in Brüssel deckt: „Sie muss aufpassen“, sagt ein erfahrener EU-Diplomat. „Von der Leyen würde gern von allen gebeten werden, um ganz sicherzugehen. Aber das wird nicht passieren.“ Bislang gebe es keinen besseren Kandidaten für das Präsidentenamt, aber über Alternativen werde sehr wohl nachgedacht.
Ungarns Präsident Orban will Veto gegen Wiederwahl einlegen
Denn von der Leyen hat mit außenpolitischen Alleingängen zuletzt erheblichen Unmut in europäischen Hauptstädten provoziert. Der versprach sie ohne Rückendeckung 50 Milliarden Euro, die die EU-Staaten bezahlen sollen. In Tunesien unterschrieb sie ein vorbereitendes Migrationsabkommen, ohne vorher die Mitgliedstaaten zu konsultieren. Und dass sie beim Besuch in Israel von der offiziellen EU-Linie abwich, sorgte in Brüssel für Empörung: Sie gab der israelischen Regierung volle Rückendeckung für die Verteidigung gegen die Hamas-Terrorangriffe, ohne wie verabredet auch auf das Völkerrecht und den Schutz der Zivilbevölkerung zu verweisen. Ein „Fehler strategischen Ausmaßes“, schimpften Diplomaten in Brüssel. Denn damit wurde deutlich, dass die EU im Gaza-Konflikt keine gemeinsame Position findet.
Solche Vorfälle sind riskant, weil die Präsidentin für ihre Wiederwahl auf die geschlossene Unterstützung der 27 Staats- und Regierungschefs angewiesen wäre. Deren Vorschlag muss das Europarlament bestätigen. Von der Leyen wurde 2019 nur mit hauchdünner Mehrheit gewählt. Auch diesmal kann sie sich auf beiden Stufen nicht sicher sein. Die EVP sichert Rückendeckung zu, CDU und CSU in Deutschland ebenso. Doch wird in der EVP schon gewarnt, dass „Störer“ aus anderen politischen Lagern ihre Wahl gefährden könnten. Ungarns Premier Viktor Orban hat angedroht, sein Veto gegen eine zweite Amtszeit der Präsidentin einzulegen. Konkurrenten gäbe es genug, ganz offen bringt sich der französische Binnenmarktkommissar Thierry Breton in Position.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einem Treffen mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Immer wieder gibt es Gerüchte, von der Leyen solle Nachfolgerin Stoltenbergs im Spitzenamt der Nato werden.
Das ist der Nährboden für Gerüchte, von der Leyen wolle gar nicht erneut Kommissionspräsidentin werden, sondern liebäugele tatsächlich mit dem Amt der Nato-Generalsekretärin. Zeitlich würde es passen, der amtierende Nato-Chef Jens Stoltenberg tritt im Oktober 2024 ab. Von der Leyen hat Ambitionen bisher verneint. Nun zeigt sich: Die Konkurrenz wäre ohnehin groß. Der scheidende niederländische Premier Mark Rutte gilt inzwischen als Favorit für den Top-Job, im Rennen sind auch die estnische Regierungschefin Kaja Kallas und der lettische Außenminister Krisjanis Karins. Was auch immer von der Leyen plant für ihre Zukunft: Sie muss sich mit einer Festlegung beeilen – und gegebenenfalls das Risiko einer Niederlage eingehen.