Wednesday, January 17, 2024
Europawahlen: Was, wenn die Welle zu groß wird?
SZ.de
Europawahlen: Was, wenn die Welle zu groß wird?
Artikel von Von Josef Kelnberger, Brüssel •
12 Std.
Anfang Juni wird das Europaparlament neu gewählt.
Der Kampf gegen rechts wird den EU-Wahlkampf beherrschen. Die EVP tritt mit Kommissionspräsidentin von der Leyen an. Die Sozialdemokraten entscheiden verzagt.
Was, wenn die Welle zu groß wird?
Es ist in diesen Tagen durchaus Melancholie zu spüren im Europaparlament. Die Legislaturperiode neigt sich dem Ende entgegen. Anfang Juni wird das Parlament neu gewählt, und die rechte Welle, die gerade über Europa hinweggeht, wird manche Abgeordnete aus dem Parlament spülen, möglicherweise sogar die Fundamente der Europäischen Union aufweichen. Der mächtigste Parlamentarier aber scheint sich gewappnet zu fühlen für die rechte Welle, immerhin.
Manfred Weber, Partei- und Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP), wirkte sehr aufgeräumt, als er in dieser Plenumswoche die aktuellen Themen der EU anschnitt. Er sprach über die Krise in Nahost, für die Europa mehr Verantwortung übernehmen müsse. Er mahnte die Milliardenhilfen für die Ukraine an, die Viktor Orbán nicht länger blockieren dürfe. Dann lud er die Medienvertreter auch schon zum EVP-Kongress am 6. und 7. März in Bukarest ein. Seine Botschaft: Wir sind bereit für den Wahlkampf.
Mit Ursula von der Leyen, CDU, hat Manfred Weber, CSU, die wesentliche Frage geklärt: Die amtierende Kommissionspräsidentin wird als Spitzenkandidatin für die christdemokratisch-konservative Parteienfamilie EVP antreten. Ursprünglich sollte sie ihre Kandidatur bei einer EVP-Veranstaltung am 1. Februar in Schweden ankündigen, im Beisein der zwölf europäischen Staats- und Regierungschefs, die der EVP angehören. Das geht nun nicht, weil für diesen Tag ein Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs in Brüssel anberaumt wurde, um die Milliardenhilfen für die Ukraine zu organisieren. Von der Leyen muss dabei sein. Also wird sie, das ist nun offenbar der Plan, ihre Kandidatur Mitte Februar im Rahmen einer CDU-Veranstaltung in Berlin verkünden.
Die Sozialdemokraten machen Nicolas Schmit aus Luxemburg zu ihrem Spitzenkandidaten
In Bukarest wird sich Ursula von der Leyen dann mit großem Pomp zur Spitzenkandidatin ausrufen lassen. Und dabei wird sie sich zu einem konservativeren Programm als ihrem bisherigen bekennen. Im "Grünen Deal", dem Markenzeichen ihrer Politik, soll die Betonung auf dem zweiten Wort liegen: Deal. Die Klimapolitik muss der europäischen Wettbewerbsfähigkeit dienen.
"Ich hoffe", sagte Manfred Weber in Straßburg, "die anderen können auch so starke und überzeugende Kandidaten präsentieren." Nur so könne es gelingen, im Wahlkampf einen lebendigen Diskurs über die Zukunft der Europäischen Union zu führen. Über den sozialdemokratischen Spitzenkandidaten, der am 2. März beim Kongress der Sozialdemokraten in Rom ausgerufen werden soll, verlor Manfred Weber kein Wort. Er heißt, das scheint nun festzustehen, Nicolas Schmit. Naheliegende Frage: Nicolas Wer?
Nicolas Schmit hat viel Erfahrung, aber kaum die Aura um die europäische Sozialdemokratie als Spitzenkandidat in neue Höhen zu führen.
Nicolas Schmit, 70 Jahre alt, ein Sozialdemokrat aus Luxemburg, ist seit 2019 als EU-Kommissar zuständig für Beschäftigung, Soziales und Integration. Er gilt als ehrenwerter, verträglicher Sozialdemokrat, der in seiner Amtszeit durchaus einige sozialdemokratische Kernanliegen voranbrachte, zum Beispiel einheitliche Standards für Mindestlöhne in Europa. Schmit selbst begründet seine Bewerbung damit, er verfüge über umfangreiche politische Erfahrung, starke politische Überzeugung und unerschütterlichen Optimismus. Das mag sein. Aber er verfügt kaum über die Aura, die europäische Sozialdemokratie in neue Höhen zu führen.
Katarina Barley, auch eine deutsche Ex-Ministerin, sei von der Leyen zu ähnlich
Als mögliche europäische Spitzenkandidatin war auch die SPD-Politikerin Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europaparlaments, gehandelt worden. Aber letztlich überwogen in ihrer Parteienfamilie die Bedenken. Sie sei mit ihrem Profil, so hieß es, Ursula von der Leyens zu ähnlich: eine Frau, aus Deutschland stammend, ehemalige Bundesministerin. Die SPD hat mittlerweile, ebenso wie die spanischen Sozialisten, Nicolas Schmit volle Unterstützung zugesichert. "Er hat alles, was ein künftiger Präsident der Europäischen Kommission braucht", lässt Katarina Barley mitteilen. Die Nominierung zeugt, bei aller Solidarität mit Schmit, aber auch von einer großen Verzagtheit unter den Sozialdemokraten. Schließlich wurden vor einigen Monaten noch große Namen gehandelt, die damalige finnische Regierungschefin Sanna Marin zum Beispiel.
Manfred Webers Parteienverbund führt nicht nur alle Wahlumfragen an, sondern stellt bereits jetzt zwölf der 27 Staats- und Regierungschefs. Geht in Bulgarien und Portugal alles glatt für die EVP, könnten es bis Juni sogar 14 sein. Und dieses Gremium hat das Vorschlagsrecht für die Spitzenjobs in den EU-Institutionen.
Die Grünen wollen den grünen Teil des "Grünen Deals" retten
Die EVP dürfte pochen, dass Ursula von der Leyen Kommissionspräsidentin und Roberta Metsola Parlamentspräsidentin bleibt. An die Sozialdemokraten könnte der Job des Ratspräsidenten fallen, den bislang der belgische Liberale Charles Michel versieht. Darüber hinaus bleibt ihnen die Aussicht, Ursula von der Leyen im Parlament gemeinsam mit EVP und den Liberalen ins Amt zu wählen - und damit eine starke sozialdemokratische Handschrift im Programm der Kommission zu sichern.
Die Grünen hoffen, dass diesmal ihre Stunde schlägt, als vierte Kraft neben EVP, Sozialdemokraten und Liberalen. Sie werden voraussichtlich mit der Deutschen Terry Reintke und dem Niederländer Bas Eickhout als Spitzenkandidaten ins Rennen gehen - und dem erklärten Ziel, als Teil einer Von-der-Leyen-Mehrheit den grünen Teil des "Grünen Deals" zu retten.
So sehen die Planspiele aus, die in dieser Woche in Straßburg bei natürlich streng vertraulichen Gesprächen gewälzt werden - und die alle null und nichtig sein könnten, wenn die rechte Welle zu hoch wird, die aus den 27 Mitgliedsländern ins Europaparlament schwappen wird. Erreicht die AfD in Deutschland mehr als 20 Prozent? Erreicht Le Pen in Frankreich mehr als 30 Prozent? Erreicht die PiS in Polen mehr als 35 Prozent? Werden die Rechten gar so stark, dass sie im Parlament die Wahl von der Leyens verhindern können? Der Kampf gegen rechts wird den Wahlkampf beherrschen samt der Frage, wer diesen Kampf am ehrlichsten führt.
Manfred Weber sieht sich schon jetzt dem Vorwurf ausgesetzt, er rücke die EVP nach rechts und strebe insgeheim rechte Mehrheiten an. Schließlich hat seine Fraktion im Parlament mit Unterstützung von ganz rechts Umweltgesetze blockiert, zur Freude der Landwirtschaft. Und zu Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni pflegt er einen engen Kontakt. Weber erwidert darauf, seine Partei tue alles, damit die Landwirte und der ländliche Raum generell nicht an die Rechtspopulisten fällt. Außerdem gelte es, die Rechten aufzuspalten - und die Vernünftigen unter ihnen einzubinden.
Webers Strategie scheint Früchte zu tragen. Aus den Niederlanden werden nach der Wahl sowohl die Abgeordneten der Bauern- und Bürgerpartei BBB und der Partei des ehemaligen Christdemokraten Pieter Omtzigt zur EVP-Fraktion stoßen. Beide profitieren von europaskeptischen Wählerinnen und Wählern. Auch die Parteikollegen des tschechischen Regierungschefs Petr Fiala könnten bald im EVP-Lager landen. Die große Frage wird am Ende sein: Lässt sich Weber auch auf eine Zusammenarbeit mit den Fratelli von Giorgia Meloni ein? Das wäre dann wohl der große Tabubruch, der das Parlament in Aufruhr versetzen würde.