Thursday, January 4, 2024
Die Ukraine könnte einen Sieg erringen, wenn auch nicht auf dem Schlachtfeld
Telepolis
Die Ukraine könnte einen Sieg erringen, wenn auch nicht auf dem Schlachtfeld
27 Min.
Zunehmend schwinden die militärischen Chancen für Kiew. Russland sitzt am längeren Hebel, der Westen sollte das sehen. Was strategisch klug wäre. Gastbeitrag.
Das militärische und wirtschaftliche Gleichgewicht im Krieg hat sich stark gegen die Ukraine verschoben, und es ist sehr schwer zu erkennen, wie sich diese Tendenz jetzt umkehren lässt. Noch kann die Ukraine einen eingeschränkten Sieg über Russland erringen, aber nur, wenn sich die Vereinigten Staaten nachdrücklich für einen Kompromissfrieden einsetzen.
Russland hat mindestens die vierfache Bevölkerung und ein 14-mal größeres BIP als die Ukraine. Die Versuche des Westens, Russland durch Wirtschaftssanktionen lahmzulegen, sind gescheitert.
Die russische Wirtschaft wuchs im Jahr 2023 um etwa drei Prozent, was auf erhöhte Energieexporte in nicht-westliche Länder und massive und erfolgreiche Investitionen in die militärische Industrieproduktion zurückzuführen ist. Die Ukraine unternimmt verzweifelte Versuche, ihre eigene Militärproduktion anzukurbeln, allerdings auf einer weitaus geringeren industriellen Basis und mit einem akuten Mangel an qualifizierten Arbeitskräften.
Westen verfehlt Ziele
Die Biden-Regierung warnt daher zu Recht, dass Russland ohne fortgesetzte und massive US-Militärhilfe für die Ukraine schnell den Sieg davontragen wird. Es ist jedoch ebenso klar, dass die US-Hilfe – vor allem nicht in der bisherigen Höhe – nicht einmal mittelfristig garantiert werden kann.
Zum Teil aufgrund des neuen US-Engagements für Israel, das durch den Gaza-Krieg und die Gefahr seiner Ausweitung entstanden ist, versäumen es die USA auch, die schwindenden ukrainischen Bestände an Luftabwehrraketen, die sowohl auf dem Schlachtfeld als auch für den Schutz der ukrainischen Infrastruktur und Industrie von entscheidender Bedeutung sind, angemessen aufzufüllen.
Sowohl die Vereinigten Staaten als auch Europa verfehlen ihr Ziel, die Produktion von Artilleriegranaten zu erhöhen, die Russland drei- bis fünfmal so häufig abfeuert wie die ukrainische Armee.
Und selbst wenn der Westen seine Militärproduktion erheblich steigern könnte (was angesichts des Drucks auf die westlichen Staatshaushalte, der Lieferkettenprobleme und des Fachkräftemangels höchst zweifelhaft ist), können wir der Ukraine nicht mehr Soldaten zur Verfügung stellen.
Mangel an Soldaten
Der ukrainische Personalmangel wird immer akuter und führt zu immer drakonischeren Wehrpflichtmaßnahmen und erbitterten Streitigkeiten innerhalb der ukrainischen Regierung über die Durchsetzung der Wehrpflicht, die angesichts des wachsenden öffentlichen Widerstands ins Wanken gerät.
Nach dem Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive im letzten Jahr sind die Biden-Regierung sowie die ukrainische Regierung und das ukrainische Militär zu einer defensiven Strategie übergegangen und versuchen, die lange Nordgrenze der Ukraine zu Russland und Weißrussland zu befestigen.
In dieser Region ist es ruhig geworden, seit Moskau seine Truppen im Frühjahr 2022 nach dem Scheitern der ersten Invasion aus dem Norden abgezogen hat. Der wachsende zahlenmäßige Vorsprung Russlands bedeutet jedoch, dass seine Armee irgendwann in der Zukunft in der Lage sein könnte, entlang dieser Front erneut anzugreifen.
Eine Strategie, die zwar klug und kurzfristig erfolgreich ist, für die Ukraine aber zwei enorme Nachteile mit sich bringt. Politisch bringt sie die offensichtliche Konsequenz mit sich, dass Russland die Gebiete, die es jetzt kontrolliert, auch weiterhin halten wird.
Defensivstrategie
Unter diesen Umständen werden natürlich immer mehr Ukrainer und Westler nach einem Kompromissfrieden rufen. Die Gefahr besteht darin, dass sich das Gleichgewicht so stark gegen die Ukraine verschiebt, dass Russland kaum noch Anreize für einen Kompromiss hat, wenn wir uns zu lange Zeit lassen.
Denn militärisch gesehen verpflichtet eine permanente Defensivstrategie die Ukraine zu einem Zermürbungskrieg auf unbestimmte Zeit, in dem Russland langfristig große Vorteile hat. Es ist richtig, dass wie im Ersten Weltkrieg die jüngsten Entwicklungen in der Militärtechnologie die Defensive stark begünstigen.
Das zeigte sich in der Niederlage der russischen Offensive 2022 und der ukrainischen Offensive 2023 sowie in den stockenden Fortschritten, die Russland bei seinen Bemühungen um die Einnahme von Kleinstädten wie Awdijiwka im Donbass gemacht hat. Wir sollten uns aber auch daran erinnern, dass im Ersten Weltkrieg die zahlenmäßige, munitionstechnische und wirtschaftliche Überlegenheit der Alliierten schließlich zum Sieg führte.
Angesichts dieser Realität greifen die ukrainische Regierung und die westlichen Befürworter eines vollständigen ukrainischen Sieges auf eine Reihe von optimistischen Szenarien zurück, die bei Lichte besehen den Charakter von wenig glaubwürdig bis magisch besitzen.
Unhaltbare Szenarien
Eine davon besteht darin, die maximale Schätzung der russischen Verluste bei den jüngsten Offensiven anzunehmen und auf dieser Grundlage zu argumentieren, dass sich die russische Armee durch wiederholte gescheiterte Offensiven bis zu dem Punkt erschöpfen wird, an dem Moskau einen Frieden zu westlichen Bedingungen anstrebt. Doch selbst dann würden die jetzt von Russland besetzten Gebiete in russischer Hand bleiben, solange die ukrainische Armee nicht fähig ist, ihrerseits erfolgreich anzugreifen.
Es ist auch überhaupt nicht klar, auf welcher Grundlage die westlichen Analysen diese "Schätzungen" vornehmen. In einigen Fällen kommen sie direkt vom ukrainischen Militär.
Laut ukrainischen Militärveteranen, mit denen ich letztes Jahr gesprochen habe, scheint die Annahme, dass Russland im Donbass Massenangriffe in Form von "Menschenwellen" im Stil des Zweiten Weltkriegs gestartet habe, weitgehend falsch zu sein. Vielmehr hat die russische Armee versucht, die Ukrainer zu zwingen, in relativ kleinen, klar abgegrenzten Gebieten zu kämpfen, in denen sie ununterbrochen von der russischen Artillerie beschossen werden können.
Krim isolieren
Das Ziel Russlands scheint derzeit nicht darin zu bestehen, schnell große Gebiete zu erobern, sondern sich auf seinen Vorteil bei der Artillerie zu verlassen, um eine große Zahl ukrainischer Soldaten zu töten, während man gleichzeitig versucht, die eigenen Verluste so gering wie möglich zu halten.
Wenn dieses Bild zutrifft, dann wird das russische Vorgehen zwar Zeit brauchen, aber langfristig wird die Ukraine aufgrund ihres Truppenmangels einfach nicht mehr genügend Soldaten haben, um ihre gesamte Front zu decken.
Die andere Hoffnung der ukrainischen Regierung und der westlichen Kriegsbefürworter ruht auf den Langstreckenraketen. Sollte der Westen dazu gebracht werden können, mehr davon zu liefern, dann, so wird argumentiert, kann die Ukraine durch die Zerstörung der Brücke von Kertsch und die Vertreibung der russischen Marine die Krim isolieren und Russland zu einem Friedensangebot zwingen.
Diese Hoffnung ist auf Sand gebaut. Der einzige große Erfolg der russischen Invasion im Jahr 2022 bestand darin, das Land zwischen Russland und der Krim zu erobern. Die ukrainische Offensive im vergangenen Jahr sollte diese "Landbrücke" durchbrechen – was jedoch nicht gelang.
Nur Nadelstiche
Der andere ukrainische Plan – wie die jüngsten ukrainischen Angriffe auf die russische Stadt Belgorod zeigen – scheint Raketenangriffe auf Ziele in Russland zu sein, um den Kreml unter Druck zu setzen. Als militärische Strategie ist auch das aussichtslos.
Aufgrund der enormen Größe Russlands wären selbst stark ausgeweitete ukrainische Angriffe, was den Schaden für die russische Wirtschaftskapazität angeht, nur Nadelstiche. Was die Opfer unter der Zivilbevölkerung betrifft, so werden sie die einfachen Russen verärgern, ohne dass es zu einer Massenbewegung für den Frieden käme.
Es könnte jedoch sein, dass die ukrainische Absicht genau darin besteht, die Russen zu verärgern. Ein Schlag durch eine vom Westen gelieferte Rakete, der sehr viele Opfer unter der Zivilbevölkerung forderte oder ein hochrangiges Ziel zerstörte, könnte den Kreml massiv unter Druck setzen, Vergeltung gegen den Westen zu üben, sei es durch Angriffe auf westliche Ziele in der Ukraine oder durch die Bereitstellung eigener Raketen und Satellitentechnologie für Gegner der USA im Nahen Osten.
300 Jahre russische Dominanz brechen
Das wiederum könnte eine viel direktere Einmischung des Westens in den Konflikt provozieren – was Kiew anstrebt, die Biden-Regierung und die europäischen Staaten aber unbedingt vermeiden wollen, und was sich die USA angesichts der Gefahren, denen man in anderen Teilen der Welt ausgesetzt ist, nicht leisten können.
Wenn dieses Bild zutrifft, gibt es sowohl für Washington als auch Kiew ein starkes Motiv, Friedensgespräche aufzunehmen, solange sie noch Einfluss darauf haben. Denn wenn gewartet wird, werden die Bedingungen mit der Zeit wahrscheinlich viel schlechter für die Ukraine und viel demütigender für den Westen sein.
Im Hinblick auf Putins Ziele, als er in die Ukraine einmarschierte, und auf die vergangenen 300 Jahre russischer Dominanz in der Ukraine sollte ein Krieg, der heute damit endet, dass 80 Prozent der Ukraine unabhängig sind und dieser Teil die Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstreben kann, als ein sehr wichtiger Sieg für die Ukraine angesehen werden. Es wäre kein vollständiger Sieg – aber ein vollständiger Sieg ist einfach nicht mehr möglich.