Wednesday, November 10, 2021
China zeigt dem naiven Westen, wie Strategie geht
WELT
China zeigt dem naiven Westen, wie Strategie geht
Thomas Straubhaar vor 10 Std.
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Flüchtlingsströme, Pandemiewellen, Überflutungen, Umweltzerstörung und Klimawandel erzeugen ein Déjà-vu. Zum x-ten Mal dominieren die in Dauerschleife seit Jahren wiederkehrenden Themen in diesen Tagen Politik und Stimmung. Dennoch scheint es, als sei die Politik überrascht, überrollt und überfordert – als wären diese bedrohlichen Ereignisse neue erstmalige Geschehnisse und nicht alte längst bekannte Herausforderungen. Anstatt weitblickend Pläne zur Krisenprävention und –bekämpfung vorbereitet und einstudiert, Vorkehrungen getroffen sowie geeignete Gegenmaßnahmen eingeübt zu haben, nimmt man frustriert und erschrocken zur Kenntnis, dass sich existenzgefährdende Gefahren wiederholen.
Migration ist ein immer wiederkehrendes Thema. Eine politische Strategie für den Umgang mit ihr vermisst WELT-Autor Thomas Straubhaar jedoch.
Heute wird Europa mit einer aktiv provozierten Massenmigration aus Belarus erneut skrupellos erpresst – dazu hatte lange zuvor die Türkei die Blaupause geliefert. In den kommenden Monaten werden sich coronabedingte Engpässe in den Krankenhäusern offenbaren – als hätte man nicht Monate Zeit gehabt, Vorsorge zu treffen.
Als Beispiel: Wenn seit Langem klar ist, dass nach einem halben Jahr Nachimpfungen notwendig werden, hätte man ebenso lange schon entsprechende Impfkapazitäten frühzeitig sicherstellen müssen, damit noch vor Silvester alle Frühgeimpften der ersten Jahreshälfte bereits wieder sicher geschützt werden könnten. Genauso ist mit hoher Gewissheit bekannt und belegt, dass die Erderwärmung trotz aller bereits beschlossenen Verzichts- und Ausstiegserklärungen die angestrebten Grenzwerte übersteigen wird. Aber man hat keinen Plan B, wie sich das nachhaltig verhindern lässt, ohne sehenden Auges Dunkelflauten und Blackouts bei der Energieversorgung zu erzeugen.
Die Planlosigkeit der Politik lässt viele das Vertrauen verlieren, Zukunftsrisiken wirkungsvoll bewältigen zu können. Bereits jetzt sprechen manche Berlin oder Brüssel Wille und Vernunft ab, Umwelt und Klima nachhaltig und mit genügender Intensität vor Kollaps und irreversiblen Schäden zu bewahren. Realitätsverweigerung in der Pandemiebekämpfung, Protestmärsche gegen den Klimawandel und ein Wiederaufbau von Grenzzäunen sind milde Vorzeichen für eine zunehmende Verrohung und auch Verzweiflung in der alltäglichen Suche nach einfachen Antworten auf komplexe Herausforderungen. Das kann weder effektiv (also zielführend), noch effizient (also ökonomisch sinnvoll) sein. Deshalb gilt es, klügere Alternativen zu finden.
Strategie lautet das Zauberwort, mit dem sich vorausschauend Risiken erkennen und zielführende Maßnahmen zu deren Bewältigung ergreifen lassen. Sie fehlt in Deutschland. Das gilt auch für die Wirtschaftspolitik. Da macht man Geschäfte mit Chinas Staatswirtschaft und nimmt wissentlich in Kauf, dass damit einhergehende Abhängigkeiten verfestigt werden, die eigene Spielräume immer enger werden lassen. Wie will man einem Laien erklären, dass China in der Welthandelsorganisation (WTO) als Entwicklungsland behandelt wird, sich aber wie eine Weltmacht benimmt und sich in Afrika weitgehend den Zugriff auf Rohstoffe, seltene Erden und Bodenschätze sichert, die für Europas Versorgung von immenser Bedeutung sind?
China zeigt einer naiven westlichen Welt, wie Strategie geht. Kein Wunder: Das Reich der Mitte war Mutterland der großen Strategieväter. Sunzi mit der Kunst des Krieges und Konfuzius mit seiner Moralphilosophie prägten ein nachhaltiges Denken, bei dem langfristige gemeinschaftliche Ziele den Rahmen dessen bilden, was einzelne Personen gegenwärtig tun oder lassen sollten. Dass sich da liberale, aufgeklärte Gesellschaften schwer(er) tun, ist offensichtlich. Denn zu oft in der Menschheitsgeschichte haben sich vermeintlich weise Männer als Bewahrer gemeinsamer Ziele ausgegeben, um dann als allmächtige Despoten Gesellschaften in alles zerstörende Kriege zu führen. Und auch in der Wirtschaftspolitik haben sich ideologische Scharlatane immer wieder angemaßt, vorauszusagen, was wichtig und richtig sein werde in Zukunft. Zu häufig ging das total schief, kollabierten Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme – wie beispielsweise die Sowjetunion im vergangenen Jahrhundert.
Offensichtlich wird somit, dass beide Verhaltensweisen ihre Gefahren haben. Wer keine Strategie hat, droht von aggressiven Machenschaften anderer überrollt zu werden, die sehr wohl einen langfristigen strategischen Plan verfolgen. Und nach naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten ablaufende Prozesse, können und müssen sehr wohl mit konsistenten Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen nachhaltig gesteuert werden. Wer andererseits einer Strategie folgt, kann irren und fälschlicherweise eine Richtung einschlagen, die in den Abgrund führt – entweder politisch oder auch ökologisch.
Also liegt – wie wohl immer im praktischen Leben - die optimale Lösung zwischen den beiden Extremen. Es gilt, soviel strategische Politik zu verfolgen, wie notwendig, um (wirtschafts-) politische und ökologische Risiken frühzeitig zu identifizieren und rechtzeitig Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Aber man sollte gegenüber Strategien misstrauisch bleiben und nur so wenig wie möglich festschrauben, um genügend Flexibilität für Anpassungen und Korrekturen zu bewahren und insbesondere sicherzustellen, dass man keinen ideologischen Irrtümern verfällt. Somit ist nur eines sicher: Eine Strategie zu verfolgen, kann teuer sein, keine Strategie zu haben jedoch wird noch teurer werden.