Sunday, November 28, 2021

Diese Preis-Wende verheißt Deutschland ein heikles Szenario

Im Handel liegen die Preiserwartungen nach Ifo-Angaben am höchsten – gefolgt von Industrie und Baugewerbe WELT Diese Preis-Wende verheißt Deutschland ein heikles Szenario Daniel Eckert - Gestern um 17:00 Einmal ist keinmal. Nach dieser Devise ignoriert die Europäische Zentralbank (EZB) bisher die steil ansteigenden Teuerungsraten. Die Frankfurter Währungshüter erklären, dass der Inflationssprung des Jahres 2021 auf Sondereffekten beruht, vor allem auf Lieferverzögerungen und Knappheiten infolge der Pandemie. In Deutschland spielt auch der Basiseffekt der Mehrwertsteuersenkung eine Rolle. Da im zweiten Halbjahr ein Teil der Steuer erlassen wurde, erscheinen die Preissteigerungen im Zwölfmonatsvergleich höher als sie eigentlich sind. Ab 2022 werde sich der Preisauftrieb normalisieren, betonen die EZB-Strategen. Doch nun mehren sich die Zeichen, dass der Inflationsschub nicht so schnell an Kraft verlieren dürfte, wie es die Zentralbank gerne hätten, deren wichtigste Aufgabe traditionell die Überwachung der Geldwertstabilität war. Einen Anlass zur Sorge gibt nun die Preispolitik der Unternehmen. Betriebe sehen sich mit stark steigenden Kosten für Energie und Vorprodukten konfrontiert. Das bedeutet nicht automatisch höhere Preise für Endprodukte: Gehen die Firmen von einer vorübergehenden Teuerung aus, hüten sie sich normalerweise, die höheren Kosten an ihre Kunden weiterzugeben. Eine Untersuchung des Münchener Ifo-Instituts legt nun aber nahe, dass die Schalter in der deutschen Wirtschaft umgelegt werden: Die Zeichen stehen auf Preissteigerungen. „Derzeit wollen so viele Firmen in Deutschland ihre Preise erhöhen wie nie zuvor“, sagt Timo Wollmershäuser, Leiter Konjunkturprognosen beim Ifo-Institut. Der von den Münchenern ermittelte Wert der Preiserwartungen ist im Oktober auf 45 Punkte gestiegen – ein Rekordwert, seitdem das Ifo Umfragen erhebt. Im Vormonat hatte der Wert noch bei 41 Punkten gelegen. Die Ökonomen des Instituts fragen regelmäßig Firmen nach ihren Plänen für Preiserhöhungen in den kommenden drei Monaten. Und nun kam heraus: Immer mehr Betriebe sehen sich gezwungen, die Kostensteigerungen an ihre Kunden weiterzugeben. Für den Monat, in dem das Ifo-Institut die jüngste Umfrage durchführte, hatte das Statistische Bundesamt einen Anstieg der Erzeugerpreise um 18,4 Prozent ermittelt. Das war die stärkste Verteuerung zum Vorjahr seit Anfang der 1950er-Jahre. Besonders getrieben wurde die Kostenexplosion durch höhere Energiepreise, die auf Jahressicht 48,2 Prozent zulegten. „Ursache für den Anstieg der Preiserwartungen der Unternehmen sind kräftige Preisschübe bei Vorprodukten und Rohstoffen, die Hersteller und Händler nun an ihre Kunden weitergeben wollen“, sagt Wollmershäuser. Die veränderte Preispolitik könne nicht ohne Folgen für die Verbraucherpreise bleiben, stellt der Konjunkturexperte klar: „Bis Ende dieses Jahres dürfte die Inflationsrate bis auf knapp fünf Prozent steigen und auch im kommenden Jahr zunächst spürbar über drei Prozent liegen.“ Damit erwartet das Ifo-Institut nun eine deutlich stärkere Geldentwertung als von der EZB vorgesehen. Die Währungshüter haben sich eigentlich dazu verpflichtet, die Inflation nicht länger über zwei Prozent steigen zu lassen. Wollmershäuser erwarten nun für dieses Jahr eine Inflationsrate von drei Prozent, und auch im kommenden Jahr wird die Rate seinen Prognosen zufolge bei zweieinhalb bis drei Prozent liegen. Der Experte stellt auch klar, dass die Teuerung nicht auf einzelne Sektoren begrenzt bleiben werde. „Die Rekorde bei den Preiserwartungen ziehen sich durch alle Wirtschaftszweige.“ Dennoch gibt es Unterschiede. Auf eine breit angelegte Teuerung müssen sich Konsumenten einstellen. Im Handel liegen die Preiserwartungen nach Ifo-Angaben bei 65 Saldenpunkten, gefolgt von der Industrie mit 56. Im Baugewerbe wurde ein Wert von 44 erreicht. Der geringste Wert mit 32 Saldenpunkten wurde bei den Dienstleistern gemessen. Doch auch für diesen Wirtschaftszweig stellt das einen Spitzenwert dar. Die Saldenwerte der Ifo-Preiserwartungen geben an, wie viel Prozent der Unternehmen die Preise erhöhen wollen, abzüglich jenes Prozentwertes an Unternehmen, die ihre Preise senken wollen. Das Ifo-Institut fragt allerdings nicht nach der Höhe der geplanten Preisänderung. Schon länger hoffen Unternehmen und Verbraucher darauf, dass sich die Lieferengpässe zum Beispiel bei Halbleitern entspannen. Bisher hat sich diese Hoffnung allerdings nicht erfüllt. Auch die Preise für Öl und Gas haben sich keineswegs so moderat entwickelt, wie erwartet worden war. „Der weitere Verlauf dieser Kostensteigerungen stellt das größte Risiko für die mittelfristige Inflationsentwicklung dar“, heißt es in der Analyse des Ifo-Instituts. Sollten sich die Lieferengpässe fortsetzen, könnten die Preisanstiege bei Vorprodukten und Rohstoffen weiter hoch bleiben. Die Münchener sehen darüber hinaus erste Anzeichen dafür, dass eine Lohn-Preis-Spirale in Gang kommen könnte. Lohn-Preis-Spirale bedeutet, dass steigende Verbraucherpreise Arbeitnehmer dazu zwingt, höhere Löhne und Gehälter zu fordern, um nicht deutlich an Kaufkraft zu verlieren. Die höheren Personalkosten wiederum veranlassen die Unternehmen, die Preise für ihre Produkte hochzusetzen, um keinen Margenverlust zu erleiden oder ins Minus zu rutschen. Bei den laufenden und anstehenden Tarifverhandlungen haben die Gewerkschaften bereits einen Ausgleich für die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten eingefordert. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts lagen die Verbraucherpreise in Deutschland im Oktober 4,5 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Für den November rechnen Ökonomen mit einem Anstieg oberhalb von fünf Prozent. Die Bundesbank hatte zuletzt sogar vor einer Inflationsrate in der Nähe von sechs Prozent gewarnt. Die Zahlen für den laufenden Monat werden am Montag bekannt gegeben. „Ein Ausgleich für die hohen Kaufkraftverluste der Arbeitnehmer wird mit einfließen und somit einen weiteren Kostenschub bei den Unternehmen verursachen“, vermutet Ifo-Mann Wollmershäuser. Im zweiten Quartal 2021 hatten sich die Reallöhne von ihrem Einbruch des Vorjahres erholt. Real verdienen viele Menschen in Deutschland allerdings weniger als 2019. Beschäftigte haben auch deshalb gute Aussichten, höhere Einkommen durchzusetzen, weil der Mangel an Fachkräften zu einem immer größeren Problem wird. In einer separaten Untersuchung hatte das Münchener Institut herausgefunden, dass inzwischen 43 Prozent aller Firmen eine Beeinträchtigung der Geschäftstätigkeit durch fehlendes Fachpersonal beklagen. Betroffen davon sind praktisch alle Branchen und Unternehmensgrößenklassen. In der Industrie sind Fachkräfte so knapp wie noch nie seit der Wiedervereinigung. „Im Vergleich zum Oktober 2020, als die Unternehmen in erster Linie mit Krisenbewältigung befasst waren, hat sich der Anteil der vom Fachkräftemangel betroffenen Unternehmen fast verdoppelt“, heißt es in der Studie. Das Fehlen von qualifiziertem Personal sei jetzt ein weitaus häufigeres Produktionshemmnis als vor Ausbruch von Corona. Auf die Pandemie, so scheint es, folgt nun die Inflation.