Monday, November 8, 2021

Autoindustrie: „Zulieferer kippen reihenweise um“: Chipkrise und Rohstoffpreise bringen Firmen in Existenznot

Handelsblatt Autoindustrie: „Zulieferer kippen reihenweise um“: Chipkrise und Rohstoffpreise bringen Firmen in Existenznot Hubik, Franz Tyborski, Roman vor 5 Std. | Während die Autokonzerne Milliardengewinne verbuchen, gehen gerade kleinere Zulieferer mit Umsätzen unter 200 Millionen Euro in die Knie. Experten sehen die Autobauer in der Pflicht. In den vergangenen Monaten hat es bereits eine Reihe von Pleiten in der Branche gegeben. Seit 70 Jahren ist der amerikanische Zulieferer Henniges Automotive in Deutschland aktiv. In der niedersächsischen Kleinstadt Rehburg-Loccum produziert das Unternehmen verschiedene Dichtungen für Türen, Fenster, Kofferräume, Heckklappen, Schiebedächer oder Motorhauben. Zu den Kunden zählt die Crème de la Crème der Branche: BMW, Daimler, Volkswagen, Ford und Volvo. Doch mit der jahrzehntelangen Fertigung in Deutschland könnte es bei Henniges bald vorbei sein. Ende Oktober meldete die Firma für ihre Produktionsstätten und technischen Büros im Großraum Rehburg Insolvenz an. Der Grund: massiver Umsatzschwund infolge der Coronapandemie und der Chipkrise. Schlimmer noch: Die steigenden Kosten für Rohmaterialen würden der Fertigung hierzulande endgültig die Perspektive rauben, argumentiert der Mutterkonzern aus den USA. Insolvenzverwalter Rainer Eckert hofft zwar auf den Erhalt des Betriebs. Die Löhne und Gehälter von Hunderten betroffenen Mitarbeitern sind aber zunächst nur noch bis Ende Dezember gesichert. Wie es danach weitergeht, ist offen. So wie Henniges kämpfen derzeit viele Zulieferer in Teilen oder zur Gänze um ihre Existenz. In den vergangenen Monaten hat es bereits eine Reihe von Pleiten in der Branche gegeben – von der A-Kaiser GmbH und der Heinze Gruppe über die Bolta Werke und die PWK Automotive bis hin zur Räuchle GmbH sowie mehreren Gesellschaften der Boryszew Automotive Plastics Group. Diese Liste ist keineswegs vollständig. Sie wird vielmehr von Woche zu Woche länger, beobachten Szenekenner. „Insbesondere die kleineren Zulieferer mit 50 bis 200 Millionen Euro Jahresumsatz kippen reihenweise um“, konstatiert Rolf Hünermann. Als Partner des Frankfurter Büros der Anwaltskanzlei Reed Smith LLP vertritt Hünermann zahlreiche mittelständische Betriebe, die in Not geraten. Er ist unter anderem auch für die deutsch-bosnische Prevent-Gruppe tätig, die seit Jahren mit VW im Clinch liegt. Vertragsstruktur als Kernproblem Hünermann registriert neuerdings eine Spaltung des Marktes. Auf der einen Seite stünden die Autobauer, die trotz stagnierender oder schrumpfender Verkaufszahlen auskömmliche Gewinne erwirtschaften. Die operativen Umsatzrenditen von BMW (12,3 Prozent), Daimler (11,6 Prozent) und Volkswagen (7,5 Prozent) liegen nach neun Geschäftsmonaten auf Rekordniveau. Der Grund: Die Konzerne haben die Preise für ihre Fahrzeuge erhöht und zugleich alle verfügbaren Chips priorisiert in die Fertigung besonders lukrativer Modelle wie der S-Klasse gelenkt. Auf der anderen Seite stehen die Zulieferer. Hier mussten zuletzt große Konzerne wie Continental und Hella ihre Ergebnisprognosen kappen. Und kleinere Unternehmen geraten verstärkt ins Straucheln. „Das kann nicht nur daran liegen, dass hier schlechte Kaufleute am Werk sind“, sagt Hünermann. „Wir haben es mit einem strukturellen Problem zu tun.“ Kern des Übels ist aus Sicht des Anwalts ein vertragliches Ungleichgewicht. Während die Zulieferer ständig Material und Personal vorhalten müssten, um Lieferausfällen und daraus entstehenden Schadensersatzansprüchen vorzubeugen, sei umgekehrt die Bindungswirkung der Autobauer, bestimmte Mengen von ihren Lieferanten abzunehmen, nur schwach ausgestaltet. „Hier fehlt es an Verbindlichkeit“, kritisiert Hünermann. Auch Kai Bliesener sieht Anpassungsbedarf zwischen Autobauern und Zulieferern. „Das ist ein Kernproblem“, sagt der auf Zulieferthemen spezialisierte Fachmann der Gewerkschaft IG Metall. „Nach den Eindrücken der Coronapandemie und der Halbleiterkrise muss das Verhältnis zwischen Autobauern und Zulieferern neu justiert und anders gestaltet werden“, fordert Bliesener, der unter anderem im Aufsichtsrat des Stuttgarter Filterspezialisten Mahle sitzt. Aus Sicht des Gewerkschafters hat sich so etwas wie ein perfekter Sturm über der heimischen Zulieferlandschaft zusammengebraut. Zu den Umsatzausfällen von 30 Prozent oder mehr infolge der Chipkrise kämen noch explodierende Preise für Industriemetalle wie Kupfer, Zink oder Aluminium hinzu. Und dann ist da ja noch die Antriebswende weg vom Verbrenner hin zu E-Motoren. In Summe seien all diese Handlungsfelder gerade für kleinere Zulieferer „kaum zu bewältigen“, fürchtet Bliesener und plädiert für einen Schulterschluss aller Akteure, um drohende Verwerfungen in der Branche zu vermeiden. Neuwagenmarkt liegt danieder Tatsächlich steuert Deutschland laut einer Hochrechnung des CAR-Instituts gerade auf „das schlechteste Autojahr seit der Wiedervereinigung“ zu. Nicht einmal 2,85 Millionen Neuwagen dürften 2021 in der Bundesrepublik zugelassen werden – noch weniger als im ohnehin schon schwer von Corona-Shutdowns belasteten Vorjahr. Weltweit sieht es kaum besser aus. Bis zu elf Millionen Fahrzeuge können dieses Jahr wegen fehlender Mikrochips nicht gebaut werden, prognostizieren die Strategieberater der Boston Consulting Group. Den Umsatzverlust, den die Branche dadurch erleidet, beziffern die Experten von Alixpartners auf fast 180 Millionen Euro. Besserung ist wohl erst 2023 in Sicht. Daher schlug Bernhard Jacobs jüngst breitflächig Alarm. „Zerstörerische Markthemmnisse, chipmangelbedingte Produktionsstopps und drastisch gestiegene Energiekosten werden für Zulieferer zum ruinösen Mix“, warnte der Geschäftsführer des Industrieverbands Blechumformung (IBU) jüngst. Die Lage sei „hochgefährlich“. Zusammen mit seinen Kollegen vom Industrieverband Massivumformung (IMU), dem Deutschen Schraubenverband (DSV) sowie dem Verband der Deutschen Federnindustrie (VDFI) schrieb Jacobs vor drei Wochen einen Brandbrief an Topmanager der großen Fahrzeughersteller und Zulieferer. In dem Schreiben wiesen die Interessenvertreter der mittelständischen Zulieferer unter anderem VW-Chef Herbert Diess, Daimler-CEO Ola Källenius und BMW-Boss Oliver Zipse darauf hin, dass eine „maßgebliche Störung der Lieferketten“ drohe. Um ein derartiges Szenario zu verhindern, forderten die vier Verbände die Autoriesen auf, verbindliche Abrufmengen zu ordern, um eine hohe Planbarkeit zu gewährleisten. In Bezug auf Halbleiter heißt es in ihrem Brief: „Beachten Sie die Rechtsverbindlichkeit von Lieferabrufen. Vermeiden Sie auch durch Mehrfachbestellung Fehldispositionen beim Materialeinkauf.“ Darüber hinaus bitten Jacobs und seine Kollegen die Manager der Autokonzerne um eine „sachgerechte Akzeptanz der exorbitanten Energiepreissteigerungen und der damit gestiegenen Herstellungskosten“. Das zweiseitige Schreiben wurde auch an die Vorstände von Conti, Bosch und ZF geschickt. Sie sind in der Lieferkette praktisch das letzte Glied vor den Fahrzeugherstellern. Dementsprechend geben sie die Forderung der kleinen Lieferanten direkt an VW, Daimler oder BMW weiter. So hatte Conti-Chef Nikolai Setzer bereits angedeutet, dass man in „partnerschaftlichen Gesprächen“ mit den Autobauern darüber verhandle, wie die Mehrkosten für fehlende Halbleiter und steigende Materialpreise auf mehrere Schultern verteilt werden könnten. Rauer Umgangston in Autobranche Conti rechnet allein in diesem Jahr mit einem erhöhten Logistikaufwand von bis zu 200 Millionen Euro, weil Chips zum Teil eingeflogen werden müssen. Die höheren Kautschukpreise wiederum schlagen im Reifengeschäft mit einem Mehraufwand von einer halben Milliarde Euro zu Buche. Kosten, die bislang der Zulieferer allein tragen muss. Im Dialog mit den Autobauern hofft Setzer, die Lasten künftig gleichmäßiger verteilen zu können. Rolf Hünermann von der Kanzlei Reed Smith LLP hält langwierige Verhandlungen dagegen für keine praktikable Lösung. Er sieht darin eher eine Art „Verzögerungstaktik“ der Autobauer, um sich möglicher Ansprüche seitens der Zulieferer zu entledigen. Denn je länger die Verhandlungen dauern würden, desto geringer sei die Überlebenschance kleinerer Zulieferer. Diese könnten nicht einfach drei bis fünf Monate ohne unmittelbare Kompensation nette Worte austauschen. „Sobald die Skaleneffekte ausbleiben, fallen oft schnell rote Zahlen an. Da schmilzt jegliche Rücklage dahin“, sagt Hünermann. Der Anwalt regt an, einen klaren Mechanismus einzuführen, der genau regelt, was passiert, wenn es zu signifikanten Produktionsausfällen wie jetzt in der Chipkrise kommt. Zunächst könnte bei streitigen Verfahren versucht werden, binnen eines Monats eine Lösung bei Verhandlungen auf höchster Ebene zu finden. „Gelingt dies nicht, muss auch der Zulieferer die Möglichkeit haben, sich vom Vertrag zu lösen, da eine Verpflichtung, Verluste zu schreiben, sicherlich nicht einseitig auf die Zulieferer abgewälzt werden kann“, so Hünermann. Dass die Autobauer solch einer Vertragsklausel zustimmen würden, ist allerdings mehr als fraglich. Schon die Bereitschaft der Fahrzeughersteller, über Anpassungen bei den Abnahmepreisen zu verhandeln, sei derzeit „sehr gering“, beobachtet Felix Mogge, Autoexperte bei der Unternehmensberatung Roland Berger. Dabei sind die Kosten für Halbleiter in den vergangenen Monaten um 25 bis 30 Prozent gestiegen. Statt einen Teil dieser Kosten zu übernehmen, würden Daimler, BMW und VW mitunter sogar neue Garantien von ihren Lieferanten einfordern. „Der Umgangston zwischen Autobauern und Zulieferern ist derzeit ziemlich rau“, sagte Mogge. Eine riesige Welle an Insolvenzen erwartet der Berater kurzfristig dennoch nicht. Die meisten Zulieferer hätten genügend Schwungmasse, um die Krise durchzustehen. „Aber für einige kleinere Unternehmen mit kaum Eigenkapital und wenig strategischer Relevanz für die Autobauer wird es nun eng“, meint Mogge. Bei großen Zulieferern wie Bosch und ZF würden darüber hinaus zunehmend die Renditen unter Druck geraten. Einerseits wegen der gestiegenen Preise und fehlender Volumina. Andererseits, weil sie ihre eigenen Lieferanten teilweise stützen müssten.