Monday, January 8, 2024

Zynischer Mengele-Prank: Zu den Papiergefechten im vergifteten Antisemitismusstreit

Berliner Zeitung Zynischer Mengele-Prank: Zu den Papiergefechten im vergifteten Antisemitismusstreit Artikel von Ulrich Seidler • 15 Std. Vielleicht lieber erst einmal Platz nehmen und miteinander reden, auf dass sich die Nebel lichten. Könnten alle mal kurz die Luft anhalten und von ihren Palmen wieder runter auf die Metaebene kommen? Danke. Der Streit um das Antisemitismusproblem des Kulturbetriebs explodiert gerade in Berlin. Die Atmosphäre ist vergiftet. Die einen sehen sich unter Generalverdacht gestellt und bevormundet, die anderen vermissen die Solidarität nach dem Hamas-Trauma vom 7. Oktober. Man belauert einander, prüft das verwendete Vokabular und die Kontakte, bevor man überhaupt zur Kenntnis nimmt, was der andere sagt – oder gar versteht, was er eigentlich sagen will. Vielleicht sind die anderen alle gar nicht so doof oder irre? Man könnte jetzt darüber streiten, ob der Berliner Kultursenator Joe Chialo mit seiner Klausel dazu beigetragen hat, dass die Stimmung einfach nur noch schlechter geworden ist, oder ob er das Problem des Kulturbetriebs mit dem Antisemitismus erst in seinem weiteren Ausmaß sichtbar macht. Er verpflichtet alle, die Fördermittel haben wollen, per Klausel dazu, gegen Diskriminierung im Allgemeinen und Antisemitismus im Besonderen Stellung zu beziehen. Dabei sollte das doch ohnehin Konsens und bei jeder Fördermittelentscheidung Voraussetzung sein. Die Reaktion war abzusehen, denn alle, die man damit auf die eingangs erwähnten Palmen hätte bringen können, sitzen längst da oben und warten auf ihr Stichwort. Der nächste Step in diesem Tänzchen ist ein offener Brief, der bereits verfasst und verbreitet war, kaum dass man die Klausel zu Ende lesen und durchdringen konnte. Was drinsteht, kann man sich denken. Wir wollen uns nicht gleich wieder inhaltlich verfransen, sondern nur auf die Diskussionsform eingehen. Offenbar war dieser aktuelle Brief so schlecht geschützt, dass ihn Gegner mit gefälschten Namen unterschreiben und auf diese Weise spielend delegitimieren konnten. Neben „Joe Chialo“ und „Kai Wegener“, hätten sich „Benjamin Nethanjahu“, „Gudrun Ensslin“ und als besonders zynisches Beispiel der „experimental healer Josef Mengele“ in der Unterschriftenliste gefunden. Der Brief wurde depubliziert, jetzt geistern die Namen als Screenshots und Cache-Zwischenspeicher durch die Kommentarspalten. Ein mieses Foul, keine Frage. Möglich wurde es durch das überhastete Aufsetzen, Unterschreiben und Teilen des Pamphlets in der Reaktion auf einen eiligen Profilierungsversuch des Kultursenators. Nichts von alledem trägt irgendwas zur Analyse oder gar Lösung des Antisemitismusproblems bei. Vorher müssen wir unser Kommunikationsproblem lösen.