Tuesday, January 2, 2024
«Weltweit grösster Raketenangriff mit Hyperschallwaffen»: Die Ukraine verteidigt sich gegen präzedenzlose russische Attacken
Neue Zürcher Zeitung Deutschland
«Weltweit grösster Raketenangriff mit Hyperschallwaffen»: Die Ukraine verteidigt sich gegen präzedenzlose russische Attacken
Artikel von Ivo Mijnssen, Wien •
1 Std.
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Russland hat in den letzten Tagen ukrainische Städte mit mehreren hundert Raketen und Drohnen angegriffen.
Die Ukraine hat in den letzten fünf Tagen die konzentriertesten russischen Luftangriffe seit Beginn des Krieges erlebt. Moskau beschoss die Städte des Nachbarlands seit dem 29. Dezember mit gesamthaft fast 300 Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen. Auch wenn einige von ihnen auf militärische Einrichtungen abzielten: Ins Visier nahm Russland primär die zivile Infrastruktur.
Besonders intensiv war die Attacke vom Dienstagmorgen, die sich ausschliesslich gegen Kiew und die Grossstadt Charkiw richtete: Beide standen stundenlang unter Feuer, laut vorläufigen Angaben wurden mindestens vier Personen getötet und über hundert verletzt. In der Hauptstadtregion waren vorübergehend 250 000 Menschen ohne Strom, auch die Wasserversorgung fiel mehrere Stunden lang aus.
Kiew zerstört den Grossteil der Raketen und Drohnen
Dennoch zogen die Militärführung und Experten ein unter den Umständen positives Fazit. «Die Luftverteidigung hat heute den weltweit grössten kombinierten Raketenangriff mit Hyperschallwaffen abgewehrt», schrieb der ukrainische Analyst Taras Tschmut am Dienstag auf X (vormals Twitter). Laut Angaben aus Kiew wurden 72 von 99 Raketen und Marschflugkörpern sowie alle 35 Drohnen zerstört, die in der Nacht von Montag auf Dienstag auf das Land zuflogen.
„Lange Neptun“ - Ukrainern fehlen Langstreckenraketen aus dem Westen - nun entwickelt sie eigene
Wie auch Präsident Selenski erklärte, verdanken die Ukrainer die hohe Abschussquote den westlichen Abwehreinrichtungen aus den USA und Europa. «Diese Systeme retten jeden Tag und jede Nacht Hunderte von Leben», meinte er am Dienstagmorgen. Regierungsvertreter nutzten die neue russische Angriffswelle, um westliche Partner dazu aufzufordern, mehr Abwehrraketen zu liefern.
Die Zerstörung der meisten Raketen ist auch deshalb ein Erfolg, weil sich unter den abgeschossenen Flugkörpern auch alle 10 durch Russland eingesetzten Hyperschallraketen des Typs Kinschal befanden. Bei der Attacke am Freitag war es dem Gegner noch gelungen, das Abwehrsystem so zu überlasten, dass nicht nur die 5 Flugkörper dieses Typs, sondern auch alle 19 ballistischen Raketen ihre Ziele erreichten. Über vierzig Zivilisten kamen ums Leben, vor allem in Kiew.
Allerdings zeigte sich auch am Dienstagmorgen, wie uneinheitlich sich der Schutz des ukrainischen Luftraums präsentiert. So steht der hohen Abschussquote in Kiew eine deutlich tiefere in Charkiw gegenüber. Da diese Stadt nur 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt, ist die Reaktionszeit deutlich kürzer und das Risiko, dort moderne Systeme zur Luftverteidigung zu stationieren, deutlich höher. Auch in Kiew bleibt nur wenig Zeit, um Raketen abzuschiessen. Da dies meist direkt über der Stadt geschieht, sind Schäden und Verwundete durch herabfallende Trümmerteile häufig. Immerhin sind die Folgen geringer.
Welche konkreten Ziele Russland mit seiner Kampagne ausser der Einschüchterung der Zivilbevölkerung verbindet, wurde in den letzten Tagen nicht völlig klar. Zwar beschoss Moskau verschiedentlich Kraftwerke und Unterwerke. Doch der Ansatz wirkt weniger systematisch als im letzten Winter.
Dies könnte damit zusammenhängen, dass die Objekte deutlich besser geschützt sind. Offensichtlich scheint hingegen, dass beide Seiten ihre Taktik an die neuen Verhältnisse anpassen. So prüfen die Russen seit Ende November ziemlich systematisch, wo die Schwachstellen der ukrainischen Verteidigung liegen.
Damals wurde Kiew mit 75 Drohnen attackiert, was eine präzedenzlos hohe Zahl darstellte. Seither berichten ukrainische Experten, dass Moskau sie in ständig neuer Art mit ballistischen Raketen und Marschflugkörpern kombiniere, die zudem auf unterschiedlichen Routen flögen.
Die billigen iranisch-russischen Shahed-136-Drohnen werden dabei meist zuerst eingesetzt, um die Abwehrfähigkeiten zu testen. Am Dienstag folgten darauf Kinschal-Hyperschallraketen und Marschflugkörper. Im Vergleich zum Freitag, als die Abwehrsysteme die letzte Welle nicht mehr hatten abfangen können, waren die Ukrainer aber besser vorbereitet, was auf einen raschen Lernprozess schliessen lässt.
Moskau sucht die Eskalation
Erfreulich sind die Perspektiven dennoch nicht, zumal der Winter noch mindestens zwei Monate andauert. Das russische Arsenal dürfte zudem weiterhin gut bestückt sein, auch wenn laut der ukrainischen Fachpublikation «Defense Express» am Dienstag mindestens ein Marschflugkörper zum Einsatz kam, der erst im vierten Quartal 2023 produziert wurde. Ein Ziel Moskaus dürfte denn auch die Erschöpfung der aus dem Westen gelieferten Abwehrraketen sein. Die Opferzahlen würden sich in diesem Fall vervielfachen.
Die Attacken der letzten Tage zeigen zudem den Willen Moskaus zur Eskalation. So hatte Wladimir Putin die neuen Attacken am 1. Januar in einer Rede vor Verwundeten angekündigt – als «Vergeltung» für einen angeblichen ukrainischen Artillerieangriff auf die russische Grenzstadt Belgorod mit 25 Toten. Dessen Umstände bleiben allerdings höchst unklar, und vieles spricht dafür, dass die grosse Opferzahl massgeblich auf den Einsatz der russischen Luftverteidigung zurückgeht.