Sunday, August 6, 2023
„Ich mache den Alarmismus um die AfD einfach nicht mehr mit“
WELT
„Ich mache den Alarmismus um die AfD einfach nicht mehr mit“
6 Std.
Bodo Ramelow wünscht sich ein Ende der Dauerdebatte über die AfD. Diese führe zu einer „gefährlichen Entpolitisierung“, sagt der Ministerpräsident von Thüringen. In Magdeburg will die Partei an diesem Sonntag über ihr Europawahlprogramm beraten.
Sieht die Umfragewerte der AfD als eine Art Trotzreaktion
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow hält die Dauerdebatte über die AfD in Deutschland für demokratiegefährdend. „Ich finde es einfach falsch, dass nur noch über die AfD geredet, gesendet und geschrieben wird. In der Zwischenzeit scheint Sachpolitik kaum noch stattzufinden“, sagte der Linken-Politiker der Deutschen Presse-Agentur in Erfurt. „Wenn es nur noch darum geht, ,wie hältst du es mit der AfD?‘, erleben wir meiner Meinung nach eine gefährliche Entpolitisierung.“ Das sei auch mit Blick auf die drei Landtagswahlen 2024 in Thüringen, Sachsen und Brandenburg ein Problem.
In den ostdeutschen Bundesländern kommt die AfD, die bundesweit vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft und beobachtet wird, in Umfragen auf Werte von bis zu 30 Prozent. In Thüringen, wo die Partei mit ihrem Landesvorsitzenden Björn Höcke als erwiesen rechtsextremistisch eingestuft ist, waren es im Juli bei Infratest dimap für den MDR 34 Prozent.
Das Meinungsforschungsinstitut Yougov sieht die Zustimmung für die Partei bundesweit derzeit bei 23 Prozent. Im ARD-„Deutschlandtrend“ von Donnerstag erzielte sie mit 21 Prozent einen neuen Höchstwert. Im „Sonntagstrend“ der „Bild am Sonntag“ hingegen verlor die Partei zuletzt im Vergleich zur Vorwoche an Zustimmung. Im Thüringer Kreis Sonneberg stellt die AfD seit einigen Wochen ihren ersten Landrat bundesweit.
„Ich mache den Alarmismus um die AfD einfach nicht mehr mit“, sagte Ramelow. Er führe dazu, dass die Partei keine Erklärungen mehr abgeben müsse zu dem, was sie wirklich wolle. „Niemand fragt mehr, was die Thüringer AfD meint, wenn sie ein Drittel der Parlamentssitze anstrebt, um dadurch alle anderen Parteien im Landtag vor sich herzutreiben. Oder was Herr Höcke für Folgen sieht, wenn er propagiert, dass die Europäische Union sterben müsse und letztlich damit der Europäische Wirtschaftsraum für unsere Thüringer Betriebe abgeriegelt wird und die Europäischen Solidaritätsgelder für Thüringen endgültig verloren gehen.“
Nach Einschätzung von Ramelow „zieht die AfD magisch die Unzufriedenen an“. Das gelte für West- wie Ostdeutschland. Die höheren Umfragewerte im Osten hätten auch etwas damit zu tun, „dass die materielle Einheit ganz gut gelungen ist, die psychologische Einheit aber eine Katastrophe ist“. Ramelow sprach von einer „seelischen Heimatlosigkeit“ eines Teils der Ostdeutschen, der sich nicht ausreichend anerkannt sehe. „Bei den zu niedrigen Löhnen müssen sich die ostdeutschen Arbeitnehmer organisieren und solidarisch um höhere Löhne kämpfen. Da helfen Herr Höcke oder der vermeintliche Denkzettel über die AfD nicht weiter.“
Viele Ostdeutsche seien inzwischen der Meinung, dass es Aufmerksamkeit dann gebe, wenn sie etwas täten, „was in Westdeutschland für Empörung sorgt“. Hohe Umfragewerte für die AfD sind nach Einschätzung von Ramelow damit auch eine Art Trotzreaktion, „keine bockige, sondern eine permanente“. Sie seien Ausdruck einer Überforderung durch Nichtverstehen oder Nichtanerkennen, was in Ostdeutschland in den vergangenen Jahrzehnten geleistet worden sei.
In Magdeburg hatte die AfD zuletzt ihre Kandidatenkür für die Europawahl 2024 abgeschlossen. An diesem Sonntag wollen die Delegierten über ihr Wahlprogramm beraten. Zur Debatte steht ein Entwurf, der die „geordnete Auflösung der EU“ sowie ein Ende des Euro fordert. Einige Delegierte bei der Europawahlversammlung plädierten auch für einen deutschen Austritt der Europäischen Union, den sogenannten Dexit. Gesucht wird ein Kompromiss, wie Parteichef Tino Chrupalla der Deutschen Presse-Agentur sagte.
„Insgesamt wollen wir natürlich die Formulierung reinbekommen, dass wir einen Neustart dieser EU wollen“, sagte Chrupalla. Reformen habe die AfD bereits vor fünf Jahren gefordert. Es sei jedoch nichts passiert. „Wenn das nicht möglich ist, muss es möglich sein, auch als Nationalstaat zu sagen: Es reicht.“ Aus Sicht der AfD soll an die Stelle der EU „ein Bund europäischer Nationen“ treten. Freihandel, Zollunion und eine europäische Sicherheitsarchitektur seien weiter gewünscht. „Es ist ja nicht so, dass wir einen Austritt fordern und danach kommt nichts“, betonte Chrupalla.