Tuesday, August 22, 2023

„Links ist nicht woke“ von Susan Neiman – Mit Kant und Diderot gegen die „woke“ Party

FR „Links ist nicht woke“ von Susan Neiman – Mit Kant und Diderot gegen die „woke“ Party Artikel von Harry Nutt • 11 Std. Susan Neiman, Philosophin und Leiterin des Potsdamer Einstein-Forums, versucht sich mit dem Essay „Links ist nicht woke“ an einer Ehrenrettung der Aufklärung. Als ein Gedicht von einer Hauswand entfernt, ein zeithistorischer Roman wegen Verwendung des N-Worts als Schulstoff delegitimiert und modisches Tragen von Rastalocken zum Anlass für einen Konzertabbruch genommen wurden, geschah dies jeweils im Namen einer höheren Gerechtigkeit. Vorausgegangen waren politische Interventionen gegen die arglose Fortführung des Gewohnten. Die aktivistische Energie, die die überaus erfolgreichen kulturpolitischen Eingriffe befeuerte, ging einher mit weitgehend ungeprüften Annahmen und Unterstellungen zur ästhetischen Produktion. Ein einziges Wort in Eugen Gomringers „Avenidas“ evozierte das Unbehagen gegen sexuelle Gewalt und lastete es dem Gedicht an. Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ wurde einer rassistischen Sprache bezichtigt, und von Nicht-Jamaikanern gespielter Reggae samt Präsentation zugehöriger Frisuren wurde als kulturelle Aneignung gewertet und es wurde zur Absage gedrängt. In der öffentlichen Wahrnehmung werden Geschehnisse wie diese mal amüsiert oder empört zur Kenntnis genommen. Je nach Gemütslage können sie achselzuckend als Randnotiz gesellschaftlicher Selbstverständigung oder als weiteres Indiz für einen eskalierenden Kulturkampf aufgefasst werden. Dass der Karneval der Infragestellungen irgendwann auch über Immanuel Kant und die Aufklärung hinwegziehen würde, kam kaum überraschend. Gegen die Angriffslust einer auf Empfindsamkeit und partikulare Interessen ausgerichteten Weltsicht haben Hermeneutik, Philologie und das Wissen über geschichtliche Entwicklung einen schweren Stand. In ihrem Essay „Links ist nicht woke“ ist die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman, Leiterin des Einstein-Forums in Potsdam, darum bemüht, die elementaren Grundlagen der Epoche der Aufklärung gegen frei flottierende Bestrebungen in Stellung zu bringen, diese im Furor einer Art ethischen Säuberung über Bord zu werfen. Eine radikal verstandene Dekolonisierung scheint gerade vor Kant nicht Halt machen zu wollen, den man einiger rassistischer Bemerkungen überführt zu haben meint. Susan Neiman hält beherzt dagegen. Es sei inzwischen zum Credo geworden, den Universalismus ebenso wie andere Ideen der Aufklärung als Taschenspielertricks zu betrachten, mit dem die eurozentrischen und kolonialistischen Ansichten verschleiert werden sollten. Dabei seien es die Aufklärer gewesen, die die Kritik am Eurozentrismus als Erste formuliert und den Kolonialismus verurteilt haben. „Um das zu erkennen, muss man keine der schwierigeren Schriften der Aufklärung lesen: Eine Taschenbuchausgabe des ‚Candide‘ genügt da vollkommen. Wer eine prägnante Schmährede gegen Fanatismus, Sklaverei, koloniale Ausplünderung und andere europäische Übel sucht, wird keine bessere finden.“ Voltaire, Kant, Diderot, Rousseau – als leidenschaftliche linke Philosophin möchte Susan Neiman mit Argumenten überzeugen, und so kann man ihre engagierte Schrift mit Gewinn als Apologie der Aufklärung gegen ihre jungen Verächterinnen und Verächter lesen, wobei Neiman selbst mitunter zu schwanken scheint, ob sie die ungezogenen Kinder der Wokeness für deren Arglosigkeit zurechtweisen oder sie für die Werte und Werke sowie den Erkenntnisreichtum der Aufklärung zurückgewinnen will. Für Letzteres sprechen Passagen wie diese: „Wenn postkoloniale Theoretiker von heute mit Recht darauf bestehen, dass wir die Welt auch aus dem Blickwinkel von Nichteuropäern sehen, sind sie Teil einer Tradition, die bis auf Montesquieu zurückgeht. Er machte fiktive Perser zum Sprachrohr seiner Kritik an den Sitten in Europa, die er in dieser Deutlichkeit und Härte mit seiner eigenen Stimme als Franzose nicht unbeschadet hätte äußern können.“ Und zur Kritik an Kant gesteht sie zu, dass dieser leider nie angesprochen habe, dass seine rassistischen Bemerkungen der eigenen späteren systematischen Theorie widersprachen. Doch es sei fatal zu vergessen, so Neiman, dass Denker wie Rousseau, Diderot und Kant die ersten waren, die den Eurozentrismus und den Kolonialismus verurteilten. Drei aufklärerische Errungenschaften sind es, an denen Susan Neiman unbedingt festhalten möchte: das Bekenntnis zum Universalismus, die prinzipielle Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Macht und die Möglichkeit von Fortschritt. Aus diesem Grund betreibt sie einigen argumentativen Aufwand, um sich mit den in woken Gefilden überaus einflussreichen Schriften Michel Foucaults auseinanderzusetzen, der mit seinen geschichtsarchäologischen Studien früh die Axt angelegt hat an emphatische Begriffe wie Freiheit und Gerechtigkeit. Obwohl Foucault sehr viel zum Verständnis der in modernen Gesellschaften herrschenden Machtmechanismen beigetragen habe, hält Neiman ihn für einen Reaktionär, dessen Lust an der Demaskierung womöglich einzig darin bestand, die Subversion zur Kunstform zu erheben. Wie ein nachhaltig wirksames Gift, so legt Neiman nahe, sei Foucaults Ablehnung des Universalismus und jeglicher Fortschrittsidee in die aktivistischen Kreise eingedrungen. Ohne Universalismus aber gebe es kein Argument gegen Rassismus, „sondern bloß einen Haufen einzelner Stämme, die um die Macht rangeln. Und sollte die politische Geschichte darauf hinauslaufen, dann haben wir keine Möglichkeit mehr, an einer stabilen Idee von Gerechtigkeit festzuhalten“. Was man „woke“ nennt, so schließt Neiman, sei selbst von einer Reihe von Ideologien kolonisiert worden, die eigentlich ins rechte Lager gehören. Während Neiman reichlich Energie aufwendet, um den von vielen als linke Galionsfigur angesehenen Foucault zu exorzieren, kommen andere theoretische Referenzen der woken Bewegung wie Judith Butler oder Edward Said allenfalls am Rande vor. Wenn dies der Option geschuldet ist, eine linke Aufgeschlossenheit zur Wokeness offenzuhalten, dann dürfte es mit Thomas Piketty, den Neiman zustimmend zitiert, eine skeptische sein. Wenn man die Menschen glauben mache, dass es zu den bestehenden sozio-ökonomischen Verhältnissen und Klassenungleichheiten keine glaubwürdige Alternative gebe, so resümiert Piketty, dann sei es kein Wunder, dass alle Hoffnung auf Veränderung sich auf die Feier der Grenze und der Identität verlagere. Die Party scheint trotz Neimans Intervention weiterzugehen.