Tuesday, August 22, 2023

Bös ist halt die Theorie: Susan Neimans „Links ist nicht woke“

Frankfurter Allgemeine Zeitung Bös ist halt die Theorie: Susan Neimans „Links ist nicht woke“ Artikel von Marianna Lieder • 7 Std. IHRE MEINUNG IST GEFRAGT. Umfrage: Wie beurteilen Sie die Ansicht von Susan Neiman, dass "Links ist nicht woke"? Es sind längst nicht mehr nur Konservative und Liberale, die strategische Überempfindlichkeiten, Wokeness und Sprechverbote beklagen. Auch viele Autoren, die sich nachdrücklich auf der linken Seite verordnen, haben die Doppelmoral des fortschrittlich daherkommenden Stammesdenkens kritisiert und bemängelt, dass vor lauter symbolischen Anerkennungskämpfen die soziale Frage aus dem Blick geraten sei, darunter der Dramaturg Bernd Stegemann, die Politologin Nancy Fraser oder die Laizismus-Aktivistin Caroline Fourest. Hier reiht sich nun auch Susan Neiman ein. „Links ist nicht woke“ lautet der Titel des Buchs, in welchem die lange Jahre schon in Deutschland lebende amerikanische Philosophin, Direktorin des Potsdamer Einstein Forums und bekennende Sozialistin der hitzig geführten Debatte wenig Neues hinzufügt. Dafür geht sie umso schwungvoller vor und schießt kreuz und quer übers Ziel hinaus. So stehen die Begriffe „woke“ und „Identitätspolitik“ bei Neiman für eine Linke, die diesen Titel zu Unrecht beansprucht, weil ihr die drei Kernideale linken Denkens – Universalismus, Fortschritt und Gerechtigkeit – irgendwann abhandengekommen seien. Zwar werde woker Aktivismus noch immer von traditionell linken Impulsen wie Mitgefühl und Empörung über das Leid der Unterdrückten angetrieben. Doch seien diese Empfindungen inzwischen aus der Spur geraten, und die Wokeness neige sich dem rechten Lager zu, statt ihm die Stirn zu bieten. Ein Ungetüm namens “Theorie“ Wann und wie dieser Sündenfall stattgefunden hat, darüber erfährt man zunächst nichts Näheres. Allerdings wird eine mysteriöse Hauptschuldige benannt: die Theorie. „Was unterschiedlichste intellektuelle Bewegungen mit dem Wort ‚Theorie‘ verbinden“, heißt es, „ist die Ablehnung eines erkenntnistheoretischen Begriffsrahmens und der politischen Annahmen, die das Erbe der Aufklärung waren.“ Während man ob dieser eigentümlichen „intellektuellen Bewegungen“ ins Grübeln gerät, fährt Neiman unbekümmert fort: „Die“ Theorie sei häufig tief im Reaktionären verwurzelt, elitär und jargonlastig. Sie bringe Texte hervor, für deren Verständnis „nicht einmal ein Doktorstudium ausreicht“, und dennoch erstrecke sich ihr fataler Einfluss über das akademische Milieu hinaus in den Mainstream. Für Neiman gibt es nur ein Mittel, diesem Ungetüm, das Linke zu Woken mutieren lässt, zu Leibe zu rücken: „Dieses Buch habe ich in der Hoffnung geschrieben, dass die Philosophie die Verwirrungen auflösen kann, die von der Theorie gestiftet wurden.“ Eine Lanze für die Aufklärung Diese Hoffnung wird allein schon deshalb enttäuscht, weil die unbedarft daherkommende Gegenüberstellung der bösen, versnobten, rechtslastigen Theorie und der guten, verständlichen, menschenfreundlichen Philosophie zu noch mehr Verwirrung führt. Dabei demonstriert Neiman durchaus, dass sie souverän argumentieren kann. Wenn sie etwa das Denken der Aufklärung – dem in all ihren Büchern ein besonderer Stellenwert zukommt – gegen beliebte zeitgenössische Vorwürfe verteidigt, schreibt sie pointiert und eingängig: So seien Kant, Diderot und Co. zwar alles andere als unfehlbar gewesen. Als Sündenböcke, die den Rassismus, Kolonialismus und Eurozentrismus legitimiert hätten, taugten sie dennoch nicht. Vielmehr sei die Kritik an diesen gräuelbehafteten Ismen erstmals in den aufklärerischen Schriften artikuliert worden. Die Lektüre von Voltaires „Candide“ und Montesquieus „Persischen Briefen“ ist Neiman zufolge zur Einstimmung auf den postkolonialen Befreiungskampf nicht minder geeignet als Frantz Fanons „Die Verdammten dieser Erde“. Auch lässt man sich von ihr gerne noch einmal erklären, weshalb der Universalismus unverzichtbar bleibt, wenn es darum geht, die Welt gerechter und weniger rassistisch zu machen. Woke mit Heidegger Regelrecht abenteuerlich wird es aber, sobald Neiman mit den von ihr identifizierten reaktionären Säulenheiligen und Einflüsterern der Wokeness – der Begriff wird bei ihr nirgends zufriedenstellend definiert – abrechnet. Zu ihnen zählt sie auch Martin Heidegger und Carl Schmitt. Beide seien stramm rechte Antimodernisten und Antisemiten gewesen. Das stimmt zweifellos. Doch die Annahme, dass Schmitts und Heideggers Schriften als positive Bezugspunkte innerhalb der akademischen Linken Konjunktur feierten – so suggeriert es Neiman auf den ersten Seiten, ohne irgendwelche Belege zu liefern –, scheint äußerst fragwürdig. Ähnlich witzlos wirkt die flammende Warnung vor der Evolutionspsychologie. Letztere verbreitet, gerade in ihrer populären Ausprägung, tatsächlich jede Menge biologistischen Unsinn. Bloß wie kommt Neiman darauf, dass ein linksprogressives Milieu, das doch überwiegend konstruktivistischen Ansätzen folgt, ausgerechnet von evolutionspsychologischen Thesen geprägt worden sei? Beispiele bleiben auch hier aus. Foucault, der amoralische Anti-Aufklärer Als mit Abstand gefährlichster unter den „rechten Ideologen“, die das woke Denken „kolonisiert“ haben, hat Michel Foucault seinen Auftritt. In dessen Schriften sieht Neiman eine antiaufklärerische Sicht auf die Welt am Werk, die noch „düsterer“ sei als die des Erzreaktionärs Joseph de Maistre. Zudem sei Foucault hoffnungslos neoliberal und durch und durch amoralisch. Sein dämonischer Meisterschachzug habe darin bestanden, die Welt glauben zu machen, dass moralischer Fortschritt unmöglich und die Berufung auf Vernunft und Universalismus letztlich nur ein eigennütziger Schwindel sei, eine getarnte Machtfunktion. Mit bemerkenswerter Unbedarftheit rührt Neiman hier nochmals sämtliche alten Anti-Foucault-Klischees zusammen und schreckt dabei auch nicht vor verschwörungstheoretischem Geraune zurück: „Wusste Angela Merkel, dass sie Foucault nachsprach, als sie ‚eine marktkonforme Demokratie‘ forderte?“ Foucault als kalter Mastermind, der nicht nur wankelm