Tuesday, August 22, 2023
Wir sind die Fluchtursache
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Wir sind die Fluchtursache
Artikel von Stephan Hebel •
3 Std.
Hebel meint
Wir sind die Fluchtursache
Afrika ist die Müllkippe Europas: Tausende Tonnen Second-Hand-Kleidung landen täglich auf dem Kontinent und zerstören die lokale Industrie, hier in der kenianischen Hauptstadt Nairobi.
Wer sich verunsichert zeigt beim Thema Zuwanderung, ist nicht automatisch radikal. Die Politik muss Bedenken ernst nehmen und darf den Diskurs nicht den Rechten überlassen. Zur Wahrheit gehört aber auch: Es wird nur dann weniger Geflüchtete geben, wenn der Westen seine Lebensweise ändert
Sechs Wochen sind vergangen, seit „Hebel meint“ vorübergehend der Berichterstattung vom Frauenfußball Platz gemacht hat. Jene Zeit, die in der Politik und im politischen Journalismus einst als „Sommerloch“ galt. Doch seit Jahren ist auch die Urlaubszeit gefüllt mit mehr oder weniger sinnreichen politischen Auseinandersetzungen, erst recht in Zeiten der Vielfachkrise: Ein imperialistischer Autokrat hört nicht auf, sein Nachbarland mit Bomben und Raketen zu überziehen, und niemand weit und breit, der wüsste, wie ihm Einhalt zu gebieten ist; die Klimakatastrophe entfacht ihre Feuer auch dort, wo deutsche Feriengäste sich von Stress und Krisenangst zu erholen versuchen; zu Hause geistern wirtschaftliche Abstiegsszenarien durch Tweets und Interviews; und die Politik? Sie taumelt wortreich zwischen dem Versuch des Kanzlers, eine funktionierende „Fortschrittskoalition“ zu simulieren, und dem alarmistischen Populismus von rechts bis ganz rechts.
Womit wir bei dem Thema wären, ohne das die erschreckende Stärke der nationalistischen Rechten und der sie imitierenden Friedrich-Merz-Fraktion kaum denkbar wäre: Flucht und Migration. Auch hier hat die Politik in diesen Sommerwochen viele Anlässe für kritische Kommentare gegeben. Mit der autoritären Regierung Tunesiens verhandelt die EU über Flüchtlingsabwehr-Deals, die deutsche Regierung (SPD-Innenministerin Nancy Faeser inklusive) will ausgerechnet bei Betreuungs- und Integrationsangeboten für Geflüchtete kürzen, und aus den Unionsparteien häufen sich die Rufe, das Grundrecht auf Asyl faktisch zunichte zu machen: Gerade forderte Vize-Fraktionschef Jens Spahn eine „Pause von dieser völlig ungesteuerten Asylmigration“, gerade so, als bräuchte es nur ein Pausenzeichen, und verfolgte oder auch „nur“ von Krieg und Diktatur erschöpfte Menschen blieben lieber in Syrien oder Afghanistan (das sind die Herkunftsländer, die derzeit mit an der Spitze stehen).
Das alles und Ähnliches ist schon häufig und mit Recht als zynischer Umgang mit menschlichem Leid markiert worden. Aber genügt es, gegen Abwehrrhetorik und Abschottungspolitik die Menschenrechte ins Feld zu führen, die nur Geltung beanspruchen können, wenn sie für alle Menschen gelten? Reicht es aus, mehr Liberalität in Migrationsfragen zu fordern, auch wenn das ein Mehr an zuwandernden Personen bedeutet?
Ich möchte auf diese Fragen heute aus persönlicher Erfahrung antworten. In den vergangenen Sommerwochen haben sich in meinem nahen Umfeld unabhängig voneinander drei Gespräche zum Thema mit drei Frauen aus drei Generationen ergeben. Eine von ihnen wurde noch im Zweiten Weltkrieg geboren, eine gehört der Babyboomer-Generation an, die dritte kam in den letzten Zügen des Kalten Krieges zur Welt.
Keine dieser Frauen käme jemals auf die Idee, die AfD zu wählen, auch die CDU favorisieren sie höchstwahrscheinlich nicht. Das ändert aber nichts daran, dass alle drei ihren Sorgen Ausdruck verliehen: über junge Männer, die von reaktionären, anti-emanzipatorischen Vorstellungen über die Rolle von Frauen in der Gesellschaft geprägt seien; über abweisend wirkende Stadtviertel, die ein ungutes Gefühl von Fremdheit und Unberechenbarkeit entstehen ließen, wenn man sie als hier geborene und sozialisierte Person betrete; über bestimmte Formen von Kriminalität, die vor allem in migrantischen Communities ihren Nährboden zu finden schienen.
Das alles sind – einerseits – Wahrnehmungen, die von rechts als Argument gegen eine liberale Migrationspolitik benutzt werden. Aber ich meine: Die Verunsicherung, die die genannten Erfahrungen auslösen, ist nicht automatisch rechts, und wer sie pauschal als „rassistisch“ abtut, wird den gesellschaftlichen Konflikten, die wir erleben, nicht gerecht.
In den Gesprächen mit den drei Frauen ist mir noch einmal deutlich geworden: Gerade wer Abschottung nicht für das Mittel der Wahl hält – und zwar einerseits aus humanitären Gründen, aber andererseits auch, weil sie nie und nimmer funktionieren wird –, sollte das Gespräch über Probleme mit Zuwanderung nicht den Rechten überlassen. Es lässt sich nämlich auch anders führen.
Zum einen: Ja, religiös-ideologisch geprägte, frauenfeindliche oder homophobe Attitüden sind nicht wegzudiskutieren. Aber warum nicht daran festhalten, dass sie auch durch Bildung, gesellschaftliche Beteiligung und Aufstiegschancen zu bekämpfen sind? Will noch jemand ernsthaft bestreiten, dass bestimmten Biotopen der Kriminalität neben konsequenter Strafverfolgung auch mit der Bekämpfung sozialer Ursachen beizukommen ist? Müssen wir uns wirklich ständig sagen lassen, das sei unrealistisch und naiv – und zwar von Leuten, die die längst als unrealistisch erwiesene Politik der Abschottung im Munde führen?
Der zweite Punkt: Es führt kein Weg daran vorbei, über Fluchtursachen zu reden, auch wenn das viele nicht mehr hören wollen. Dass die Trawler aus dem globalen Norden vielen Menschen an afrikanischen Küsten die Existenzgrundlage wegfischen; dass wir Märkte im Süden mit Hühnerteilen zuschütten, die uns nicht gut genug sind; dass wir die Meere und ihre Fauna mit Plastikmüll versauen – all das und vieles mehr sind keine Naturgesetze. Es sind (von den Folgen des Klimawandels noch gar nicht zu reden) Auswirkungen genau der Lebensweise, in der wir uns durch die Migration verunsichert fühlen.
Die Zweifel sind schnell formuliert: Daran etwas zu ändern, ist schwierig und dauert lang. Und wird nicht die AfD immer stärker, bevor es den Menschen im Süden so viel besser geht, dass sie tun, was sie ohnehin am liebsten täten: zu Hause auskömmlich zu leben?
Aber hier nun die Gegenfrage: Wann hat Politik je versucht, zum Abschreckungs-Diskurs eine ermutigende Gegenerzählung zu entwickeln? Eine, die ein Festhalten am Asylrecht mit einer gut gesteuerten Arbeitsmigration, einer vorbeugenden Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte und der Bekämpfung von Fluchtursachen durch ein Eindämmen unserer „imperialen Lebensweise“ verbindet? Es gibt in der Ampelregierung Lichtblicke, was Arbeitsmigration und den Umgang mit bereits Eingewanderten betrifft. Aber eine liberal-soziale Offensive, die Ängste und Verunsicherungen weder ignoriert noch populistisch missbraucht, ist leider nicht in Sicht.