Tuesday, August 22, 2023
Die folgenschwere Rücksicht auf grüne Befindlichkeiten
WELT
Die folgenschwere Rücksicht auf grüne Befindlichkeiten
Artikel von Jacques Schuster •
54 Min.
Der Migrantenzuzug könnte vermindert werden, ohne unsere Werte aufzugeben. Doch die Ampel-Regierung lässt einen entsprechenden Vorschlag auf EU-Ebene scheitern – aus Rücksicht auf den grünen Koalitionspartner. Der tönt indes alles nieder, was nicht ins eigene moralisch saubere Weltbild passt.
Ende der 80er-Jahre verfasste der Philosoph Hermann Lübbe einen Essay, der die Überschrift „Politischer Moralismus: Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft“ trug. Der Titel sagt bereits alles – und lässt sich in der herrschenden Stimmung als Sinnspruch des Tages jeden Morgen wiederholen. „Das Gewissen als scharfrichterliche Instanz“ fällt mittlerweile täglich sein Urteil.
Der CDU-Politiker Jens Spahn muss es derzeit erleben. Er hatte am Sonntag vorgeschlagen, die EU-Außengrenzen für Migranten zu schließen. Man kann diesen Vorschlag für hilfreich oder abwegig halten. Man kann verärgert darauf hinweisen, dass Jens Spahn eine solche Idee in die Debatte hätte werfen können, als er noch im Kabinett der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) saß und über politischen Einfluss verfügte; kurzum, man kann ihm vorwerfen, dass sein Vorstoß heute wohlfeil ist.
Das Tremolo der Empörung besonders aufseiten der Grünen aber ist nichts weiter als der Versuch, mit der Moraltrompete niederzutönen, was nicht ins Weltbild passt.
Ampel verhindert wirkungsvolles Vorgehen
Erregen darf man sich trotzdem, aber nicht über Spahn, sondern über die aktuelle Bundesregierung. Zwar verweisen Bundesinnenministerin Nancy Faeser und Bundeskanzler Olaf Scholz (beide SPD) seit Wochen darauf, dass sich die Europäische Union endlich auf eine härtere Gangart in der Zurückweisung nicht anerkannter Asylbewerber geeinigt habe.
Doch verschweigen sie, dass die Europäer eine viel wirksamere Abwehr geplant hatten: Auf dem Gipfel im Juni hatten sie durchsetzen wollen, dass Migranten künftig auch in Transitstaaten zurückgeführt werden können; also in Staaten, aus denen sie zwar nicht kommen, aber durch die sie gezogen waren, oder auch in Staaten, die zur Aufnahme von Migranten für eine gewisse Zeit bereit wären. Dieser Vorschlag hätte die europäischen Staaten durchaus entlastet und gleichzeitig die Abschreckung für Menschen erhöht, die gezielt nach Deutschland, in die Niederlande oder nach Schweden streben.
Der Vorschlag fiel durch. Er scheiterte auf Druck aus Berlin. Die Ampel-Regierung war mit Blick auf den grünen Koalitionspartner nicht bereit, auch nur zu erwägen, künftig Migranten so lange außerhalb der EU zu belassen, bis ihr Antrag auf Asyl bearbeitet ist.
Seit Jahren wissen wir, wie sich der Zuzug von Migranten vermindern ließe, ohne unsere Werte aufzugeben. Jener Vorstoß der meisten EU-Mitglieder wäre ein Schritt dorthin gewesen. Dass er aufgrund der Ampel-Regierung ausblieb, hilft nur einem: der AfD.