Friday, January 24, 2025
Wovor Musk die Menschheit retten will
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Wovor Musk die Menschheit retten will
Patrick Schlereth • 13 Std. • 7 Minuten Lesezeit
Die Vordenker im Silicon Valley reden gerne von einer besseren Welt. Ihre Zukunftsvisionen versprechen das ewige Leben, die Heilung aller Krankheiten, die Besiedelung des Weltraums und die produktive Verschmelzung von Mensch und Maschine. Nichts scheint unmöglich, wenn man groß genug denkt und das nötige Kapital mitbringt. Das Narrativ des Silicon Valley: Wir wollen Gutes tun für die Menschheit, nicht nur heute, sondern langfristig gedacht.
Die philosophische Grundlage finden die Unternehmer seit einiger Zeit im „Longtermism“, zu Deutsch etwa „Langfristigkeitsdenken“, einer Denkrichtung, die den Menschen in einer fernen Zukunft mindestens genauso viel Wert beimisst wie den Menschen der Gegenwart. Longtermisten sehen unsere Spezies am Scheideweg: Wenn sie sich nicht selbst auslöscht, könnte ihr eine Milliarden Jahre lange Zukunft bevorstehen, in der sie den Weltraum kolonialisiert und irgendwann als digitale Kopie ihrer selbst fortbesteht. Um diese glorreiche Zukunft zu ermöglichen, müssen Bedrohungsszenarien für die Menschheit frühzeitig aus dem Weg geschafft werden. Oxford-Philosoph Nick Bostrom, Vordenker des Longtermism, definierte schon Anfang des Jahrtausends die „existentiellen Risiken“ wie die Vernichtung durch einen Atomkrieg, Asteroideneinschläge oder eine schlecht programmierte Superintelligenz.
Musk: „Große Übereinstimmung mit meiner Philosophie“
Bostroms Kollege in Oxford, William MacAskill, machte die bisher randständige Denkrichtung mit seinem Bestseller „What we owe the future“ (deutsch: Was wir der Zukunft schulden) im Sommer 2022 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Auch über seinen reichweitenstarken Account auf der Plattform X gab Elon Musk eine Leseempfehlung ab: Longtermism habe eine „große Übereinstimmung mit meiner Philosophie“.
Musk ist nicht der einzige, wohl aber der wirkmächtigste Techmilliardär im Dunstkreis des Longtermism. Es ist eine Symbiose, die passt, nicht nur weil Musk und die Longtermisten eine Schwäche für den Buchstaben X teilen. Der reichste Mann der Welt spendete Geld für das Future of Life Institute, mitgegründet von Skype-Erfinder Jaan Tallinn, oder das Future of Humanity Institute des Oxford-Philosophen Bostrom. Mit seinen zahlreichen Unternehmen arbeitet Musk genau an den Baustellen, die MacAskill und Bostrom im Sinn haben: der Vernetzung von Mensch und Computer, der Erforschung Künstlicher Intelligenz und der Kolonialisierung des Weltalls. Als bekennender Science-Fiction-Fan empfiehlt Musk gerne die „Foundation“-Reihe von Isaac Asimov, in der ein Mathematikprofessor berechnet, wann das galaktische Reich untergehen wird und wie sich kommende Zivilisationen schützen lassen. Asimovs Romanreihe, die schriftstellerische Blaupause für das Programm des Longtermism, soll Musk zur Gründung seines Raumfahrtunternehmens SpaceX inspiriert haben, das 2028 die ersten Menschen zum Mars schicken will.
Ist es nicht gut, nach den Sternen zu greifen? Kritiker des Longtermism fragen, wer da eigentlich irgendwann einmal fremde Galaxien erkunden darf. Sind es nur (einfluss)reiche Eliten, während der ganze Rest längst durch Hungersnöte und klimabedingte Naturkatastrophen umgekommen ist? Dem Longtermism und seinen Verfechtern wird vorgeworfen, blind gegenüber realen und aktuellen Problemen zu sein. Zugespitzt gefragt etwa: Warum heute an die Welthungerhilfe spenden und ein paar Millionen Kinder retten, wenn man Milliarden Kindern, die noch nicht geboren sind, das Leben auf dem Mars ermöglichen kann?
Ist die Klimakrise ein „existentielles Risiko“?
Aus der Perspektive der Longtermisten erscheinen Katastrophen der Gegenwart gering. MacAskill und seine Oxford-Kollegin Hilary Greaves schreiben poetisch: „Wäre die Geschichte der Menschheit ein Roman, befänden wir uns auf der allerersten Seite.“ Émile P. Torres, Postdoc für Philosophie an der Case Western Reserve University in Cleveland und einst selbst dem Longtermism verfallen, bewertet die Zukunftsgewandtheit inzwischen deutlich düsterer. „Aus kosmischer Sicht“ und im Großen und Ganzen betrachtet, schreibt Torres, sei selbst „eine Klimakatastrophe, die die menschliche Zivilisation in den nächsten zwei Jahrtausenden um 75 Prozent reduziert, nicht mehr als ein kleiner Ausrutscher – so wie ein Neunzigjähriger, der sich mit zwei Jahren den Zeh gestoßen hat.“
Es ist nicht so, als käme die Klimakrise in den Schriften der Longtermisten nicht vor. Ein „existentielles Risiko“ scheinen die Denker aus Oxford hier aber nicht zu sehen. In seinem Bestseller „What we owe the future“ doziert MacAskill über ein klimatechnisches Worst-Case-Szenario in 300 Jahren, in dem die Menschheit alle fossile Energie verbrannt hat. Selbst eine Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur um 7 bis 9,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter führe nicht zwangsläufig zum „zivilisatorischen Zusammenbruch“. Der Klimawandel sei zwar „schlecht für die Landwirtschaft in den Tropen“, doch reichere Länder könnten sich anpassen, und „gemäßigte Regionen würden relativ unbeschadet davonkommen.“ Und was ist mit Hungersnöten, Fluchtbewegungen, Verteilungskämpfen? „Die meisten Konfliktforscher“ seien der Ansicht, dass der Klimawandel in dieser Hinsicht eine untergeordnete Rolle spiele – ganz im Gegensatz zum „ökonomischen Wachstum“. Es ist der Treibstoff, der die Menschheit zu den Sternen bringen soll. Das wirklich existentielle Risiko für MacAskill: Stagnation.
Ist der Longtermism also die utopische Gegenbewegung zum radikalen Klimaschutz, der im Zweifel die Rettung des Planeten der Rettung der Menschheit vorzieht? Torres warnt davor, die Trendphilosophie aus dem Silicon Valley als Bewahrerin unserer Zivilisation misszuverstehen. Der „Trick“ liege in der „eigenwilligen“ Definition davon, was das Menschsein ausmacht, sagt Torres im Gespräch mit der F.A.Z.: „Unsere Spezies könnte in zwei Jahren aussterben. Solange sie von postmenschlichen Nachfolgern abgelöst wird, Künstlichen Intelligenzen etwa, hat die Auslöschung der Menschheit für die Longtermisten nicht stattgefunden.“
Longtermism passt zur kapitalistischen Wachstumserzählung
Eines seiner Grundprinzipien hat sich der Longtermism beim Utilitarismus abgeguckt, einer moralphilosophischen Strömung aus dem 18. Jahrhundert. Eine Handlung ist dann gut, wenn sie den größtmöglichen Nutzen für die größtmögliche Anzahl von Menschen stiftet. Bekannt ist etwa das Gedankenexperiment vom „Trolley-Problem“: Eine Straßenbahn droht, fünf Menschen zu überrollen, wenn die Weiche nicht umgestellt wird. Wenn sie aber umgestellt wird, wird das Leben eines einzelnen Menschen auf der anderen Schiene gefährdet. Wie würden Sie sich entscheiden? Der Utilitarist würde die Weiche umstellen, um ein Leben zugunsten fünf anderer Leben zu opfern. Der Longtermist weitet das Gedankenexperiment nun aus auf unvorstellbare viele Menschen, die möglicherweise in einer fernen Zukunft auf dem Gleis liegen werden – und stellt im Zweifel die Weiche um, sodass ein paar Millionen dran glauben müssen, die heute die Erde bevölkern.
Vielleicht findet Musk den Longtermism auch deswegen charmant, weil sich das Prinzip „Mehr ist besser“ trefflich in eine kapitalistische Wachstumserzählung umdichten lässt. „Stellen Sie sich vor, Sie bekommen ein Geburtstagsgeschenk“, sagt Torres. „Es enthält entweder eine Bombe oder das ewige Leben.“ Der Longtermist gehe dieses Risiko ein. In dieser Logik ergibt es Sinn, einerseits vor der Auslöschung der Menschheit durch eine superintelligente KI zu warnen und andererseits in ein milliardenschweres Wettrüsten um KI-Chips einzusteigen. In dieser Logik traut man den Hochleistungscomputern der Zukunft zu, das Klimaproblem zu lösen, und verschweigt dabei, das gewaltige Rechenzentren überall auf der Welt jetzt schon massiv zum Raubbau am Planeten beitragen. Wenn alle Lithiumvorkommen verbraucht und der letzte Liter Wasser für die Serverkühlung draufgegangen ist, heben die Techgiganten einfach ab Richtung Mars oder laden ihr Bewusstsein in die Cloud hoch.
Es war nicht immer so, dass sich die Protagonisten des Longtermism nur für Langfristigkeiten interessierten. Aber die Idee, dass wenige Reiche auf der Basis kühler Berechnungen entscheiden, welche Investitionen in die Zivilisation sich lohnen und welche nicht, gibt es schon länger. Hervorgegangen war der Longtermism aus dem „Effektiven Altruismus“ der Oxford-Philosophen MacAskill und Toby Ord. Die Idee: Wohltätigkeit lässt sich optimieren, wenn man den richtigen Job hat und an die richtige Organisation spendet. Entscheidend ist danach nicht so sehr die Höhe der Gabe, sondern eben der Empfänger.
Der wissenschaftliche Zugang ist beim Effektiven Altruismus moralischen Erwägungen unbedingt vorzuziehen. Neue Bücher und mehr Lehrer helfen nicht, um die Kinder in Entwicklungsländern in die Schule zu bekommen, Entwurmungsbehandlungen schon. Statt 50.000 Dollar für die Ausbildung eines Blindenhundes zu bezahlen, sei das Geld besser in Operationen investiert, um Hunderte Blinde zu heilen. Ganz am Utilitarismus geschult, will der Effektive Altruismus möglichst vielen Menschen helfen – oder Tieren, denn davon gibt es noch mehr, vor allem von den ganz kleinen. 400 Milliarden gerettete Shrimps versprechen eine hervorragende Bilanz.
Mit Trump will Musk endlich zum Mars
In Ungnade fiel der Effektive Altruismus, als ihr prominentester Vertreter, der Kryptohändler Sam Bankman-Fried, Ende 2022 wegen des Verdachts auf Betrug und Geldwäsche verhaftet wurde. Weitere Vorwürfe kamen hinzu, mehrere Frauen wandten sich an die Medien und berichteten von sexueller Belästigung im Umfeld des Effektiven Altruismus. Bostrom musste sich für eine Jahrzehnte alte E-Mail entschuldigen, in der er schrieb: „Schwarze sind dümmer als Weiße.“ Im Frühjahr 2024 schließlich machte sein von Musk mitfinanziertes Future of Humanity Institute dicht, die Gründe blieben intransparent. Bostrom sprach von einem „Tod der Bürokratie“.
Für Musk dürften die Vorwürfe rund um die Denkbewegung aus Oxford nicht mehr als ein letztes Aufbäumen des bald überwundenen „woke mind virus“ sein. Die überbordende Bürokratie abzuschaffen und dem ungezügelten Erfindergeist freien Lauf zu lassen, hat sich der Unternehmer zum Ziel gesetzt. Der Feind ist die Überregulierung, welche die Menschheit unter anderem davon abhält, „eine multiplanetare Zivilisation“ zu werden, schrieb Musk kurz vor der US-Wahl. Für Donald Trump zu stimmen, bedeute gleichzeitig, für „den Mars zu stimmen“.
Der Rest ist bekannt. Trump verspricht bei seiner Amtseinführung, die USA würden ihre Flagge „auf dem Mars hissen“. Sein Unterstützer Musk reckt beide Daumen, er könnte nicht glücklicher sein. Zukünftig sitzt er als Einflüsterer des Präsidenten mit an den Schalthebeln der Macht. Er soll den Staat effizienter machen und in Bereichen zurückdrängen, in denen er mit seinen Unternehmen aktiv ist: Mobilität, Raumfahrt, Kommunikation.
Trotzdem ist Musks Wette auf Trump eine mit ungewissem Ausgang, auch weil dessen Ziele im Gegensatz zu denen des Longtermism häufig kurzfristiger Natur sind. Insbesondere seine protektionistische Handelspolitik und die Zolldrohungen gegenüber China dürften dem Tesla-Chef zudem nicht schmecken – das Reich der Mitte ist einer der wichtigsten Autoabsatzmärkte. Wie lange die „Bromance“ zwischen Trump und Musk hält, bleibt also abzuwarten. Aus der Sicht des Longtermism ist Trumps Präsidentschaft aber ohnehin nur eine kleine Etappe auf Musks Weg in eine glorreiche Zukunft für unsere Spezies.