Friday, January 24, 2025
Nach Aschaffenburg-Bluttat ist klar, wo die Probleme von Deutschlands Asylsystem liegen
FOCUS online
Nach Aschaffenburg-Bluttat ist klar, wo die Probleme von Deutschlands Asylsystem liegen
Sebastian Scheffel • 18 Std. • 5 Minuten Lesezeit
Innenministerin Nancy Faeser (SPD) ist politisch verantwortlich für die innere Sicherheit - die im Fall des Attentats von Aschaffenburg nicht gewährleistet wurde.
Am Tag nach dem Attentat in Aschaffenburg überschlagen sich die Forderungen nach einer Verschärfung der Migrationspolitik. Das Ziel: Taten wie die des Verdächtigen aus Afghanistan künftig zu verhindern. Allerdings hat jedes einzelne asylrechtliche Verfahren seine Tücken: Manche, die später zu Straftätern werden, lassen sich rechtlich nicht greifen, bei anderen werden die rechtlichen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft.
An verschiedenen Stellen hätten im Fall des mutmaßlichen Täters Enamullah O. Entscheidungen anders fallen können und wohl auch müssen. An anderen Stellen hätten andere Gesetze andere Entscheidungen ermöglicht. Im Fall von O. beginnt die tragische Geschichte mit der Einreise in die EU über Bulgarien.
Dort, so erzählt es eine Asylrechtsanwältin im Gespräch mit FOCUS online, werden Flüchtlinge in der Regel registriert, dann aber oft ruppig behandelt. Sie leben oft unter problematischen Bedingungen. Deshalb reisen die meisten weiter – obwohl nach den Dublin-Regeln der Europäischen Union eigentlich Bulgarien zuständig wäre, weil der Flüchtling dort den ersten Fuß in die EU gesetzt hat.
Zahlreiche Probleme bei Dublin-Fällen
Nach der Einschätzung von Raphael Bossong, Asylrechtsexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, funktioniert das Dublin-System zwar wieder besser als in vergangenen Jahren, aber nicht optimal. Das grundsätzliche Prinzip hält auch die im vergangenen Jahr verabschiedete EU-Asylreform aufrecht: „Bei Einreise soll das erste EU-Land zuständig sein, es soll aber auch bei andauernder Unklarheit oder sonstigen Hindernissen der Staat das Asylverfahren übernehmen, in dem sich die Person befindet“, erklärt Bossong.
Bulgarien, nach geltenden Regeln zuständig, winkt die Flüchtlinge zwar nicht ohne Registrierung weiter, wie es andere Staaten tun. Damit trägt das Land also theoretisch zum Funktionieren des Systems bei und hält sich ans Recht. Allerdings sorgt man mit der schlechten Behandlung der Fluchtlinie für deren Weiterreise.
So könnte es auch bei O. gewesen sein, der offenbar über Österreich nach Deutschland gelangte. Eine Asylrechtsanwältin nennt deshalb im Gespräch mit FOCUS online die Verbesserung der dortigen Bedingungen als ein Punkt, auf den Deutschland einwirken könnte.
Überstellungen scheitern oft aus organisatorischen Gründen
Als O. in Deutschland ankam, wollte er hier Asyl. Die Behörden starteten jedoch offenbar das in diesen Fällen übliche Verfahren: Sie baten Bulgarien um die Rücknahme, von dort soll auch eine Einwilligung gekommen sein. Für die um Überstellung ersuchenden Ländern gilt dann eine sechsmonatige Frist. Gelingt die Überstellung in diesem Zeitraum nicht, wird das Land zuständig, in dem sich der Flüchtling aufhält.
Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) erklärte am Donnerstag auf einer Pressekonferenz, sein Bundesland habe vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) zu spät Bescheid bekommen, so dass die Organisation einer Überstellung in nur wenigen Tagen bis Fristende scheiterte. Eine Ausnahme ist das offenbar nicht: Bei Dublin-Fällen gelingt die Überstellung oft aus organisatorischen Gründen nicht.
Italien zum Beispiel nimmt entgegen den Regeln keine Dublin-Fälle zurück – Bulgarien ist da kooperativer. Oft fehlen aber die Kapazitäten, um die Flüchtlinge aufzugreifen und schnell in ein Flugzeug zurück zu setzen. Im schlimmsten Fall kann die sechsmonatige Frist wie bei O. dann gar nicht mehr eingehalten werden.
„Das wird ausgenutzt und ist eine Schwachstelle im System“
Eine Parallele kann man von Aschaffenburg zu dem islamistischen Anschlag in Solingen im vergangenen Jahr ziehen: Auch der dortige Täter hätte nach Bulgarien zurückgebracht werden sollen, allerdings versteckte er sich einfach, als er von der Polizei hätte abgeholt werden sollen. Auch das ist oft ein Hindernis bei Dublin-Überstellungen.
„Die zugehörigen Fristen, je nach Fallkonstellation zwischen sechs und 18 Monaten, werden aber auch ausgenutzt und sind eine Schwachstelle“, erklärt Asylrechtsexperte Bossong. „Die Reform der EU-Asylpolitik, die letztes Jahr verabschiedet wurde, wird die Fristen verlängern und den Außengrenzstaaten mehr Pflichten auferlegen. Aber das kommt erst 2026. Und auch so werden die Probleme und Streitigkeiten über Zuständigkeiten für Asylbewerber nicht einfach aufhören.“
Langsames Asylverfahren, fehlender politischer Wille
Zuständig war bei Enamullah O. dann letztlich Deutschland und das Bamf. Eine Entscheidung im Asylverfahren fällte die Behörde allerdings nicht. Hätte sie die Akte von O. schnell bearbeitet und den Antrag negativ beschieden, wäre er vollziehbar ausreisepflichtig geworden. Theoretisch hätte dann auch eine Abschiebung nach Afghanistan stattfinden können.
Allerdings: Die Asylverfahren in Deutschland dauerten Stand September 2024 im Schnitt 8,2 Monate. Damit stieg der Wert im Vergleich zu 2023 wieder an. Oft gibt es aber Streit um die Asylbescheide, die Fälle können dann vor Gericht landen. Dort können die Verfahren auch mal zwei Jahre lang dauern. Fehlende personelle Kapazitäten und komplexe rechtliche Fragen zu jedem Einzelfall verlangsamen das ganze Verfahren.
Im Fall von Enamullah O. hätte es vermutlich noch einen weiteren Grund gegeben, der eine schnelle Abschiebung verhindert hätte. Denn die grundsätzliche politische Linie der Bundesregierung ist es seit der Machtübernahme der Taliban 2021, nicht nach Afghanistan, also in das Heimatland von O., abzuschieben. CDU und CSU kritisieren das schon lange und wollen das im Fall einer Regierungsbeteiligung ändern. Auch die gescheiterte Ampelkoalition hat ihre Linie aufgeweicht und nach dem Solingen-Anschlag einen ersten Abschiebeflug nach Afghanistan organisiert. Weitere blieben bislang aus, trotz anderslautender Versprechungen.
Wann wäre Haft bei O. möglich gewesen?
O. kündigte im vergangenen Dezember schließlich die freiwillige Ausreise an, womöglich um dem Strafvollzug wegen seiner Gewaltdelikte zu entgehen. Grundsätzlich ist die freiwillige Ausreise für Asylrechtsexperte Bossong sogar der bevorzugte Weg: „Sie ist besser, weil sie meist günstiger und effektiver ist.“ In manchen Fällen helfe man deshalb sogar mit Geldzahlungen nach, bei Dublin-Fällen wie O. sei das aber nicht möglich.
Nach der Ankündigung von O. stellte das Bamf offenbar eine Woche später das Asylverfahren ein und forderte den Afghanen zur Ausreise auf. Damit war O. wieder ausreisepflichtig, womöglich wäre dann wegen seiner Gewaltdelikte auch eine Haft möglich gewesen. Der Afghane blieb aber in Deutschland, wohl weil ihm die nötigen Dokumente für eine Rückkehr in seine Heimat fehlten.
O. dauerhaft einzusperren, wäre kaum möglich gewesen. Bossong erklärt: „Bei psychischen Kranken gilt, dass man sie nicht einfach ohne sehr gute Begründung dauerhaft wegsperren kann.“
Manche Merz-Ideen greifen, andere nicht
Insgesamt zeigt sich: Es hätte auch nach der geltenden Rechtslage Möglichkeiten gegeben, die Tat von Enamullah O. zu verhindern. Gleichzeitig stoßen die geltenden Regeln in der Praxis manchmal an ihre Grenzen. An diesem Punkt will zum Beispiel CDU-Chef und Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz ansetzen.
Unter anderem will Merz alle Versuche der illegalen Einreise unterbinden, auch in Fällen, in denen Dublin-Flüchtlinge von der europäischen Freizügigkeit Gebrauch machen. Sollten sich diese Kontrollen realisieren lassen, hätte O. tatsächlich gestoppt werden können.
Der CDU-Chef will außerdem ausreisepflichtige Personen und Straftäter in Gewahrsam oder Haft nehmen. Da im Fall von O. nach der gescheiterten Überstellung nach Bulgarien ein Asylverfahren lief, bestand zunächst wohl keine Ausreisepflicht – zu diesem Zeitpunkt wäre der Vorschlag also ins Leere gelaufen. Hilfreich wäre aber wahrscheinlich der Vorschlag vom Merz, dass der Bund die Bundesländer bei Abschiebungen unterstützt. Das würde die Kapazitäten erhöhen und Verfahren beschleunigen.
Asylrechtler Bossong warnt jedoch vor überzogenen Debatten: „Es wurden ja schon Reformen verabredet. Aber sie treten erst in den kommenden Monaten und Jahren in Kraft – die neuen Regeln gibt es als theoretisch schon, hätten in diesem Fall aber noch gar nicht greifen können.“ Ob sie in diesem konkreten Einzelfall geändert hätten, ist – wie derzeit noch so vieles – unklar.