Thursday, April 13, 2023

Grüne machen gleichen Fehler wie Atomkraftbefürworter – und am Ende wusste man von nix

Berliner Zeitung Grüne machen gleichen Fehler wie Atomkraftbefürworter – und am Ende wusste man von nix Artikel von Ulrich Waas • Vor 2 Std. Es gibt einen einleuchtenden Grundsatz: „Brücken erst abreißen, wenn neue fertig sind und funktionieren.“ Aber in der Frage des Atomausstiegs haben die Grünen sich entschieden, den Grundsatz zu ignorieren. Als Gründe für die Eile zum vorzeitigen „Brückenabriss“ werden genannt: Der Beschluss zum Ausstieg aus der Kernenergie habe einen Konflikt in der Gesellschaft befriedet. Das dürfe man nicht durch einen Weiterbetrieb infrage stellen. Wer nicht den Kopf in den Sand gesteckt hat, muss sich wundern. Gewiss, es gibt genügend Kapazität, wenn genügend Kohlekraftwerke reaktiviert werden. Das Programm für die Reaktivierung der Kohlekraftwerke hat Habeck angeworfen. Dass auf diese Weise für jedes unnötig gemachte AKW jährlich 10 bis 11 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich emittiert werden, erwähnt Habeck jedoch mit keinem Wort. Nur nebenbei und versteckt räumt Habeck mal ein, dass 8800 Megawatt (MW) Kohlekraftwerke mehr am Netz sind als ursprünglich vorgesehen. Warum ist Klimaschutz bei den Grünen hier kein Thema? Um von dem Problem abzulenken, erhofft sich Habeck einen Anstieg der Stromerzeugung aus regenerativen Energiequellen auf 80 Prozent im Jahre 2030, um wenigstens dann Kohlekraftwerke runterfahren zu können. Das bedeutet angesichts der erwarteten Zunahme des Stromverbrauchs etwa eine Verdreifachung der Stromerzeugung aus Wind und Sonne in sieben Jahren, im Vergleich zu dem, was man davor in über 20 Jahren geschafft hat. Angesichts der vielfachen Probleme des Ausbaus, wie beispielsweise lange Genehmigungsverfahren, fehlende Herstellungs- und Errichtungskapazität, Probleme in den Stromnetzen sowie das bisher ungelöste Problem der Speicherung großer Mengen elektrischer Energie, ist das von Habeck ausgegebene Ziel höchst unrealistisch. Man kann also Wetten darauf abschließen, dass viele Kohlekraftwerke auch nach 2030 noch weiterbetrieben und CO2 emittieren werden. Die Führung der Grünen wird das dann sicher sehr bedauern: Man habe das ja nicht vorhersehen können. Gewiss, 2011 gab es in der Gesellschaft einen großen Konsens, aus der Kernenergie auszusteigen – aber auf Basis der Versprechungen der Grünen, dass der Ausstieg zu geringen Kosten und Mühen zu haben sei. Man erinnert sich: 2004 meinte der damalige Umweltminister Jürgen Trittin: „Es bleibt dabei, dass die Förderung erneuerbarer Energien einen durchschnittlichen Haushalt nur rund 1 Euro im Monat kostet – so viel wie eine Kugel Eis.“ Den Faktencheck kann inzwischen jeder mit seiner Stromrechnung machen. Und ob jener angebliche gesellschaftliche Konsens über den Ausstieg noch existiert, darf bezweifelt werden, nachdem in den letzten Jahren das Ausmaß der Kosten und Mühen für die Energiewende immer deutlicher geworden ist. Positive Umfrageergebnisse zum Weiterbetrieb der AKWs sprechen dagegen. Vor allem aber ist das Befrieden eines Konflikts nur gesichert, wenn die Diskussion zum umstrittenen Thema auch halbwegs redlich geführt wird. Hieran hat es jedoch bei Habeck und anderen Spitzen-Grünen nach der „Zeitenwende“ im Februar 2022 erheblich gemangelt. Minister Habeck hatte zwar angekündigt: „Es gibt keine Denktabus.“ Aber tatsächlich waren die Denktabus in den zuständigen Ministerien weiterhin von oben vorgegeben, wie inzwischen durch Recherchen enthüllt wurde. Statt nach dem Ausfall der russischen Gasversorgung die offene Diskussion zur Sicherung der Energieversorgung zu suchen, stand für Frau Lemke und Herrn Habeck im Vordergrund, mit möglichst vielen, größtenteils erfundenen Behauptungen alle Gedanken zum Weiterbetrieb der noch verfügbaren AKWs umgehend plattzumachen. Unabhängig von allen Widerlegungen werden die Behauptungen mantraartig bis heute wiederholt, aktuell von Simone Peter, von 2013 bis 2018 eine der Vorsitzenden der Partei Bündnis 90/Die Grünen, die jetzt twitterte: „Die unflexible Einspeisung der AKW würde die Marktwerte der #Erneuerbaren massiv senken und die Betriebswirtschaftlichkeit förderfreier Anlagen gefährden.“ Tatsächlich ist jedoch die Behauptung, AKWs in Deutschland könnten ihre Leistung bei Bedarf nicht an die wechselnde Stromproduktion von Wind und Sonne anpassen, seit rund 20 Jahren durch die Praxis widerlegt. Und mit welchen doppelten Standards Habeck hier arbeitet, zeigte seine Aussage gegenüber dem ukrainischen Energieminister Haluschtschenko: „Die Ukraine wird an der Atomkraft festhalten. Das ist völlig klar – und das ist auch in Ordnung, solange die Dinger sicher laufen. Sie sind ja gebaut.“ Er sagte dies am 5. April, zehn Tage vor der von ihm geforderten endgültigen Abschaltung von drei KKWs in Deutschland, die offensichtlich ebenfalls gebaut sind und deren hohes Sicherheitsniveau im internationalen Vergleich nicht bezweifelt wird. Letztlich wurde im März 2022 von Habeck eine Chance vertan, die Grünen in der Energiedebatte wieder „ehrlich zu machen“: Im Juni 2021 hatte Patrick Graichen, jetzt Staatssekretär für die Energiewende bei Habeck, im Vorwort zu einer Studie zur Untermauerung der Grünen Energiepolitik ausgeführt: „Der Pfad ist realistisch, das Ziel wird innerhalb der üblichen Investitions- und Lebenszyklen sowie unter Wahrung von Wirtschaftlichkeit und gesellschaftlicher Akzeptanz erreicht. […] Die Antwort auf die Frage, ob wir vor 2050 Klimaneutralität erreichen können, ist ein klares ‚Ja‘.“ Wichtige Voraussetzung für diese Aussage war die Annahme, dass in Deutschland etwa 100 Gaskraftwerke zugebaut würden, die mit günstigem Gas aus Russland in der Stromerzeugung Kohle- und Kernkraftwerke ersetzen sollten. Dahinter steckte die Erkenntnis, dass selbst bei maximalem Zubau von Sonne und Wind noch große Kraftwerksleistungen für „Dunkelflauten“ benötigt würden, weil ein zentrales Problem der Energiewende, die großtechnische Speicherung elektrischer Energie, in absehbarer Zeit nicht gelöst sein wird. Nun ist durch Putins Krieg Gas als Brückentechnologie in der Stromerzeugung vorerst ausgefallen, d.h. eine wesentliche Voraussetzung in dem Grünen-Energiewende-Konzept ist entfallen. Eigentlich wäre nun – im Sinne der Zeitenwende – eine offene Diskussion geboten gewesen, wie ein Konzept jetzt aussehen könnte, um dem Einhalten der Klimaziele nahezukommen. Mit dem gemeinsamen Eingeständnis, dass in den letzten 40 Jahren Energiediskussion von verschiedenen Seiten Aussagen und Prognosen kamen, die durch die Realität widerlegt wurden, hätten die „Ladenhüter“ der bisherigen Narrative eingemottet und die Diskussionen zu einer effizienten Energiewende eine seriöse Grundlage erhalten können, - um die CO2-Emissionen schneller zu senken und - um die gesellschaftliche Energie-Debatte nachhaltiger zu befrieden. Die offene, Denktabu freie Diskussion hat Habeck nicht gesucht, sondern abgewürgt. Stattdessen setzt er jetzt auf zwei Dinge: - den vermehrten Betrieb von Kohlekraftwerken (eine seltsame „Brückentechnologie“); - die Hoffnung, man könne Deutschland in allen Bereichen sehr schnell energieeffizient und CO2-vermeidend umwandeln sowie eine großflächige Wasserstoffwirtschaft und vielfache Kapazitäten für Wind- und Solarstrom aufbauen – und zwar alles mit beispielloser Geschwindigkeit, damit die Kohlekraftwerke nicht mehr in so großem Umfang und bis weit über 2030 hinaus betrieben werden müssen. Zur Umwandlungsbeschleunigung wurden inzwischen etliche Gesetze produziert: bis wann für die Energiewende etwas vorhanden oder auch verboten sein soll. Aber Gesetze selbst sparen keine einzige Kilowattstunde und kein Kilogramm CO2-Emission. Sie müssen erst technisch und wirtschaftlich in der Praxis umgesetzt werden können. Um eine Vorstellung zu entwickeln, worum es geht, sollte man den aktuellen Referentenentwurf für ein Gesetz zur Änderung des Gebäudeenergiegesetzes und zur Änderung der Heizkostenverordnung sowie zur Änderung der Kehr- und Überprüfungsordnung durchlesen (nur knappe 155 Seiten). Was alles nach diesem Gesetz Architekten, diverse Handwerker, Zulieferer von Heizungs-, Lüftungs-, Steuerungs- und Überwachungstechnik, Bauherren, Vermieter, Mieter, Kaminkehrer sowie diverse Behörden bereits ab 1.1.2024 verstanden haben und anwenden sollen, ist schon sehr beachtlich. Dabei ist noch schwer überschaubar, wie hoch der zusätzliche Aufwand liegen wird und wie die im Prinzip versprochene Förderung aussehen wird. Wer nicht den gesamten Entwurf lesen will, kann sich auf den neuen Paragraf 71 (Anforderungen an Heizungsanlagen) des Gebäudeenergiegesetzes (Entwurf S. 20–33) beschränken und seinen Heizungsinstallateur und seinen Kaminkehrer befragen, wie die das umsetzen können. Wahrscheinlich würden alle Beteiligten froh sein, wenn bis zum 1.1.2024 wenigstens die Schulungsunterlagen für Installateure verabschiedet wären, mehr aber wohl kaum. Sicher sollte man sich in der jetzigen Lage bemühen, Wandel zu beschleunigen. Und eigentlich ist seit der großen Energiedebatte um 1980 (siehe die Serie Argumente in der Energiediskussion) im Grundsatz klar, was zur energetischen Optimierung im Bereich des Wärmebedarfs in Deutschland hätte getan werden sollen. Aber was in vier Jahrzehnten von Regierungen jeglicher Couleur „verdilettiert“ worden ist, lässt sich nicht per Gewaltakt in sieben Jahren nachholen. Es ist außerordentlich schade, dass von Wirtschaftsminister Robert Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke eine offene, Denktabu freie Diskussion über eine Neujustierung der Energiepolitik nach dem 24. Februar 2022 faktisch abgelehnt und mit im Wesentlichen unzutreffenden Argumenten abgewürgt wurde und dass stattdessen – entgegen eigenen Klimaschutzbekundungen – vermehrt auf Kohlekraftwerke als „Brückentechnologie“ gesetzt wird. Dagegen könnten mit jedem nach dem 15.4.2023 weiterbetriebenen oder wieder in Betrieb genommenem KKW jährlich bis zu 11 Millionen Tonnen CO2-Emissionen eingespart werden. Bei Stromerzeugungskosten von 2 bis 3 Cent/kWh in den vorhandenen KKWs könnte auch ein Beitrag zur Absenkung der Strompreise geleistet werden. Die KKWs sind dabei nach langjährigen Erfahrungen so flexibel, dass sie bei Bedarf ihre Stromerzeugung an die schwankende Einspeisung von Wind und Sonne anpassen können. Mit Bedauern muss man feststellen, dass die Grünen in der Energiediskussion den gleichen Fehler begehen, wie Repräsentanten der Kerntechnik vor 40 Jahren: Berechtigten Fragen der Öffentlichkeit wird ausgewichen, oft mit vordergründigen, konstruierten Behauptungen. So wird eine Chance vertan, die CO2-Emissionen schneller zu senken und zu einer konstruktiveren Zusammenarbeit in der Energiewende zu kommen. Sowohl in der EU als auch im weltweiten Vergleich droht Deutschland zum Einzelgänger/Geisterfahrer zu werden. – Müssen diese Nachteile alle in Kauf genommen werden, damit die in den Schützengräben der Anti-AKW-Bewegung aufgewachsenen Altgrünen nicht auf ihre Ausstiegsparty verzichten müssen?