Monday, April 17, 2023
New York Times: Warum Chinas Führung den Präsidenten der Ukraine nicht angerufen hat
Berliner Zeitung
New York Times: Warum Chinas Führung den Präsidenten der Ukraine nicht angerufen hat
Artikel von Tomasz Kurianowicz • Gestern um 08:15
Die amerikanische New York Times hat in ihrer Sonntagsausgabe (16. April 2023) eine lange Analyse veröffentlicht, in der sie sich in die chinesisch-ukrainischen Beziehungen vertieft. Der Text beginnt mit den Worten: „Das letzte Mal, als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und Chinas Staatschef Xi Jinping miteinander sprachen, feierten sie 30 Jahre diplomatische Beziehungen und lobten das ‚sich vertiefende politisches Vertrauen‘ und die ‚tiefe Freundschaft‘ ihrer Völker. Das war im Januar 2022. Weniger als zwei Monate später überfiel Russland, einer der engsten Partner Chinas, die Ukraine. Seitdem hat Xi nicht mehr mit Selenskyj gesprochen, obwohl dieser ihn wiederholt darum gebeten hat. Und die ‚solide und stabile‘ Beziehung, die sie angepriesen haben, scheint eine ferne Erinnerung zu sein. “
Das Schweigen zwischen beiden Präsidenten reflektiere die geopolitisch komplizierte Lage, die sich wegen des Krieges etabliert habe. Der Text erklärt, dass China und Ukraine vor dem Krieg wichtige politische Verbindungen gepflegt hatten. Die Beziehungen waren, so heißt es, fruchtbar gewesen und waren auf dem aufsteigenden Ast. Das habe sich nun geändert. Trotzdem hieße das nicht, dass die Ukraine die Chinesen mit Ignoranz oder Ressentiments behandeln würde. Ganz im Gegenteil: Während die Spannungen zwischen den USA und China weiter anwachsen und die Amerikaner jede chinesische Friedensinitiative mit Blick auf den russischen Angriffskrieg ablehnen, nehmen die Ukrainer die Chinesen ernst. Im Text heißt es: „Die Ukraine wirbt um China, weil es in der Lage ist, die russische Aggression einzudämmen. Die Ukraine ist sich jedoch der Tatsache bewusst, dass Peking in dieser Hinsicht nachweislich zurückhaltend ist. Die ukrainische Führung befürchtet, dass China Russland tatsächlich aufrüsten könnte. Die öffentliche Meinung in der Ukraine gegenüber China ist also angespannt.“
China wiederum möchte seine erklärte Neutralität in dem Konflikt aufrechterhalten, so die New York Times. Gespräche mit Wolodymyr Selenskyj könnten Chinas Image verbessern und als verantwortungsvolle Weltmacht präsentieren. Trotzdem müsse man wissen: China stellt den Krieg als Stellvertreterkrieg um die künftige Weltordnung dar, mit den Vereinigten Staaten auf der einen und sich selbst und Russland auf der anderen Seite. Da Kiew sich auf die Seite des Westens gestellt habe, sei die Ukraine für China Teil des Westens.
Dann heißt es weiter: „Hinzu kommt die Tatsache, dass die Ukraine als angegriffenes Land für China wirtschaftlich nicht mehr so attraktiv ist wie früher.“
In dem New-York-Times-Stück wird der Experte Zhu Feng zitiert. Er ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Nanjing in China. Er sagt: „Die heutige Ukraine befindet sich immer noch im Krieg, Chinas Investitionen dort wurden bombardiert, und wir wissen nicht, wie die Ukraine in Zukunft aussehen wird. Gibt es noch eine Beziehung zwischen China und der Ukraine?“
Vor dem Krieg, so die New York Times, seien die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen China und der Ukraine groß gewesen. „Zwischen 2017 und 2021 haben sich die Exporte der Ukraine nach China vervierfacht. Laut einem Bericht des Council on Foreign Relations war China im Jahr 2019 der größte Handelspartner der Ukraine und der wichtigste Importeur von Gerste und Eisenerz. Die Ukraine war auch Chinas größter Maislieferant und der zweitgrößte Waffenlieferant des Landes. Chinas erster Flugzeugträger, die Liaoning, war ein ausrangiertes sowjetisches Schiff, das von der Ukraine gekauft und von der chinesischen Marine umgebaut wurde.“
Der damalige Premierminister der Ukraine habe 2019 zum „Jahr Chinas“ erklärt. Chinesische Unternehmen seien für den Bau einer neuen U-Bahn-Linie in Kiew angeworben worden. Das Freihandelsabkommen der Ukraine mit der Europäischen Union habe das Land zu einer attraktiven Anlaufstelle für chinesische Waren gemacht, so die New York Times.
„Auch der kulturelle Austausch nahm zu. Eine Statue in Pekings größtem Park ehrt einen ukrainischen Dichter. Olena Selenska, die Frau von Wolodymyr Selenskyj, hielt eine Begrüßungsrede auf dem Internationalen Filmfestival 2021 in Peking. Nach Angaben der ukrainischen Botschaft waren viele Ukrainer in China Studenten.“
Die New York Times weist darauf hin, dass es aber immer schon Spannungen gegeben habe wegen der geopolitischen Lage. „Nach der Annexion der Krim durch die Ukraine im Jahr 2014 hielt sich China mit Kritik an Russland zurück. Die Ukraine sah sich auch dem Druck der Vereinigten Staaten ausgesetzt, sich von China zu distanzieren, was sie 2021 dazu veranlasste, den Verkauf eines ukrainischen Luft- und Raumfahrtunternehmens im Wert von 3,6 Mrd. US Dollar an chinesische Investoren abzubrechen.“ Dabei ging es um die Firma Motor Sich.
Dann heißt es weiter: „Als sich im vergangenen Jahr russische Truppen an der ukrainischen Grenze versammelten, erklärten Xi und der russische Präsident Wladimir Putin bei einem Treffen in Peking, dass die Partnerschaft ihrer Länder ‚keine Grenzen‘ habe. Nach Beginn des Krieges wurde Pekings Ausrichtung noch deutlicher. Es übernahm viele der Argumente und Desinformationskampagnen des Kremls, beschuldigte die Nato, den Konflikt angezettelt zu haben, und weigerte sich, den russischen Angriff als Invasion zu bezeichnen. Im vergangenen Jahr hat sich Xi mehrfach mit Putin getroffen oder mit ihm gesprochen. In Chinas stark zensiertem Internet werden in populären Videos russische Drohnenangriffe gefeiert, und nationalistische Meinungsmacher verhöhnen die Hinwendung der Ukraine zum Westen.“
Der Text zeigt, dass sich die Ukraine trotzdem um die Unterstützung der Chinesen bemüht. „Die Ukraine erkennt China als das vielleicht einzige Land mit Einfluss auf Russland an. Wolodymyr Selenskyj hat sich wiederholt auf Chinas Respekt für die territoriale Integrität berufen. Während viele Verbündete der Ukraine das, was sie als Chinas pro-russische Haltung empfinden, scharf kritisiert haben, war Wolodymyr Selenskyj vorsichtiger. Er bezeichnete das jüngste Positionspapier Pekings zum Krieg, das viele westliche Regierungen als substanzlos abtaten, als ‚wichtiges Signal‘. Er sagte, dass ‚ich wirklich glauben möchte‘, dass China Russland nicht aufrüsten wird.“
Dennoch sei die Frustration über China in der Ukraine, in der Regierung und in der Bevölkerung angewachsen. Mit dieser These wird zumindest Yurii Poita zitiert. Er ist der Leiter der Asienabteilung des in Kiew ansässigen New Geopolitics Research Network. Eine Umfrage einer ukrainischen Forschungsgruppe vom Oktober habe laut New York Times ergeben, dass sich die ablehnende Haltung gegenüber China in der Ukraine seit 2021 auf 18 Prozent verdoppelt habe.
„Xis Besuch in Moskau im vergangenen Monat, bei dem er und Putin die russisch-chinesische Partnerschaft bekräftigten, dürfte Kiews Erwartungen weiter gedämpft haben. ‚Die Ukraine hat sich lange Zeit große Illusionen über China gemacht‘, sagt Yurii Poita. ‚Aber jetzt glaube ich, dass ihre Illusionen allmählich schwinden, vor allem nach diesem Besuch.‘ Gleichzeitig hat China seine Rhetorik etwas abgeschwächt, vor allem, weil es sich um eine Verbesserung der Beziehungen zu Europa bemüht. Chinesische Beamte haben kürzlich die Bedeutung der ‚No Limits‘-Erklärung heruntergespielt.“
Für China könnte im Wiederaufbau der Ukraine eine wirtschaftliche und strategische Chance stecken, schreibt die New York Times. Unabhängig davon, wie der Krieg ausgehen wird. Das bestätigt auch Janka Oertel, Direktorin des Asienprogramms beim European Council on Foreign Relations. „Dies könnte ein attraktiver Weg sein, um an der Neuordnung der Nachkriegszeit teilzunehmen“, wird sie in der New York Times zitiert. „Die chinesische Regierung würde diese Wirtschaftsbeziehungen gerne so offen wie möglich halten.“ Dennoch werde China nur so weit gehen und sich nicht die Finger verbrennen wollen.
„Chinas Außenminister hat mit seinem ukrainischen Amtskollegen gesprochen, aber die Regierung hat sich geweigert, mehr darüber zu sagen, ob die Spitzenpolitiker wie Wolodymyr Selenskyj und Xi Jinping miteinander sprechen werden. Ursula von der Leyen, die Chefin der Europäischen Kommission, sagte, Xi habe ihr letzte Woche erzählt, er sei bereit, mit Selenskyj zu sprechen, ‚wenn die Bedingungen und die Zeit stimmen‘. Chinesische Experten argumentierten, dass ein Telefonat zwischen den beiden zum jetzigen Zeitpunkt, da weder die Ukraine noch Russland zu einem Waffenstillstand bereit zu sein scheinen, wenig Sinn machen würde. Amerikanische Beamte haben in der Tat vor Vorschlägen für einen Waffenstillstand gewarnt, da ein Waffenstillstand die russischen Gebietsgewinne festigen würden,“ so die New York Times.
An dieser Stelle wird Wang Yiwei zitiert, Direktor des Instituts für internationale Angelegenheiten an der Renmin-Universität in Peking. „Es ist nicht so, dass wir keinen Kontakt aufnehmen würden, aber die Frage ist, worüber wollen wir reden?“ Er fügte über Selenskyj hinzu: „Seine Hoffnung auf einen Anruf war, dass China die russische Invasion verurteilen und Russland zum Rückzug seiner Truppen auffordern wird. Das ist nicht realistisch.“
Die New York Times schreibt von einer großen Ungewissheit. „Die Ungewissheit der Beziehung überträgt sich auch auf Menschen wie Anton Matusevych, einen Ukrainer in Shanghai. In acht Jahren hat sich der 32-jährige Matusevych dort ein Leben aufgebaut, ein Therapiegeschäft eröffnet und eine Chinesin geheiratet.“ Er wisse, dass viele Chinesen Russland unterstützen, habe aber trotzdem versucht, eine Gemeinschaft mit Ukraine-Unterstützern zu bilden, indem er kulturelle Veranstaltungen und Spendenaktionen organisiert. „Man kann die Meinungen der Menschen nicht ändern“, sagte er der New York Times. Aber „wir können wenigstens versuchen, Verbindungen zu finden und zukünftige Beziehungen aufzubauen“.
Dennoch sei sein Aufenthalt in China zunehmend an Bedingungen geknüpft. „Wir versuchen zu helfen, aber gleichzeitig verstehen wir, dass dieses chinesische System der Ukraine nicht hilft“, sagte er laut New York Times. Sollte China Russland bewaffnen, würde er abreisen: „Es gibt Grenzen, die wir nicht überschreiten dürfen.“