Sunday, April 23, 2023

«Die geistige Invasion ist beängstigender als eine echte Waffe» – wie sich Taiwan gegen Chinas Einfluss wehrt

Neue Zürcher Zeitung Deutschland «Die geistige Invasion ist beängstigender als eine echte Waffe» – wie sich Taiwan gegen Chinas Einfluss wehrt Artikel von Martin Kölling, Tokio • Gestern um 13:43 Der Kampf um Taiwan wird auch mit Schriftzeichen ausgetragen. Diese Woche hielt die richtige Bezeichnung für «Kartoffel» Taiwans Politik in Atem. In einem Parlamentsausschuss fragte ein Abgeordneter den Bildungsminister Pan Wen-chung, wie der festlandchinesische Begriff für eine Kartoffel in ein Schulbuch für taiwanische Mittelschulen gelangen konnte. Disput um die richtige Bezeichnung für Kartoffeln ;– ein Nachtmarkt in der taiwanischen Hauptstadt Taipeh. «Tudou» (wörtlich Erd-Bohne) stand in dem Biologiebuch für Siebtklässler anstelle des in Taiwan gebräuchlichen Begriffs «malingshu». Minister Pan reagierte überrascht: «Wirklich? Wie konnte das in unserem Korrekturprozess durchrutschen?» Sein Ministerium werde den Fehler korrigieren. Der Kang-Hsuan-Verlag bedauerte kurz darauf, eine Kontroverse ausgelöst zu haben. Propagandainstrument Tiktok Der Vorfall spiegelt die wachsende Sorge in Teilen der taiwanischen Gesellschaft, dass China mit seiner popkulturellen Offensive den Widerstandswillen der taiwanischen Jugend gegen eine mögliche Wiedervereinigung untergräbt. Die Anwältin und Co-Vorsitzende der Grünen Partei, Zoe Lee, fürchtet, dass die Jugend immer weiter in den Bann chinesischer Apps und der dort verwendeten Sprache gezogen wird. «Diese geistige Invasion ist beängstigender als echte Waffen», sagt Lee. Die kommunistischen Machthaber in Peking betrachten das Rückzugsgebiet ihrer kapitalistischen Gegner im Bürgerkrieg als Teil der Volksrepublik China. Seit Jahrzehnten drohen sie deshalb, Taiwan notfalls mit Gewalt ins Reich der Mitte zurückzuholen. Immer neue militärische Grossmanöver, in denen China den Angriff mit Raketen, Flugzeugen und Schiffen übt, schüren weltweit Kriegsängste. Die Gefahr eines Angriffs in den kommenden zehn Jahren liege bei über 50 Prozent, schätzte vergangene Woche der China-Experte Matthew Pottinger in einem Interview mit der japanischen Nachrichtenagentur Kyodo. Pottinger war unter dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump stellvertretender Sicherheitsberater der Regierung. Propaganda und Desinformation sind dabei schon seit Jahren Waffen im chinesischen Arsenal, die Wehrbereitschaft der Inselbewohner zu untergraben und die Insel vielleicht ohne einen Schuss einzunehmen. Mit Apps scheint das nun besser zu gelingen als mit dem Streuen von Falschnachrichten, Verschwörungstheorien und anderen Desinformationen, sorgt sich die Anwältin Lee. Eine App, die sie besonders beunruhigt, ist der in China selbst nicht zugelassene Kurzvideodienst Tiktok, der wegen seines chinesischen Eigentümers Bytedance auch in den USA als pro-chinesisches Propagandainstrument in der Kritik steht. Jugendliche in Taiwan nutzen intensiv den chinesischen Kurzvideodienst ;Tiktok. Carl Court / Getty Jugendliche in Taiwan nutzen intensiv den chinesischen Kurzvideodienst ;Tiktok. Carl Court / Getty © Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung Deutschland Ebenso kontrovers ist die Instagram-ähnliche App Xiao Hong Shu, «das kleine rote Buch». Der Name spielt auf die gesammelten Sprüche von Mao Zedong an, dem Führer der kommunistischen Revolution. Das Büchlein erlangte in den 1960er Jahren weltweite Berühmtheit und inspirierte auch viele Teilnehmer der 68er-Bewegung in Europa. In der App-Version tauschen die meist jugendlichen Nutzer statt Mao-Zitaten jedoch Lifestyle-Schnappschüsse aus. Lee sorgt sich dennoch, dass dabei wie bei Tiktok chinakritische Einträge oft zensiert werden. Für die 35-jährige Politikerin kommt das einer Gehirnwäsche gleich. Die jungen Taiwaner würden sich zwar nicht als Chinesen sehen. «Aber sie übernehmen chinesische Begriffe und Schriftzeichen, weil sie das cool finden», sagt sie. «Und sie sehen China nicht mehr als Bedrohung.» Der Propaganda-Experte Puma Shen teilt diese Sorge, wenn auch etwas differenzierter. Die Firma Bytedance, die Tiktok betreibe, stamme aus Peking, Xiao Hong Shu aus Schanghai, betont der Professor der National Taipeh University, der sich auf chinesische Desinformationskampagnen spezialisiert hat. «Peking und Schanghai denken unterschiedlich.» In Peking drehe sich alles um Propaganda, sagt der Gründer der Bürgergruppe Kuma-Academy, die landesweit Taiwaner für den Fall eines chinesischen Angriffs in Sachen Zivilschutz im Erkennen chinesischer Desinformation schult. In Peking müssten Unternehmen mit der Regierung kooperieren. «In Schanghai sagen sie sich eher, dass sie unpolitisch sein wollen.» Im Vergleich zu Tiktok sei das Risiko, das von Xiao Hong Shu ausgehe, daher etwas geringer. Verwundbare Jugend und Senioren Der Propaganda-Experte sieht nicht nur die Jugend in Gefahr, sondern auch ältere Menschen. Die würden sich die Tiktok-Videos allerdings nicht direkt anschauen, sondern über eine in Taiwan weit verbreitete japanische Chat-App. Shen hält die Jugend und die Senioren für die verwundbarsten Gruppen.