Saturday, April 15, 2023

„Kein Mensch in dieser Bundesrepublik glaubt diesem Mann“

WELT „Kein Mensch in dieser Bundesrepublik glaubt diesem Mann“ Artikel von Julia Witte, Ulrich Exner • Gestern um 18:13 Im Cum-Ex-Untersuchungsausschuss nährt ein Zeuge Zweifel an behaupteten Erinnerungslücken von Scholz (SPD). Zudem sagt Bundesfamilienministerin Paus (Grüne) aus – die früher Scholz hart kritisierte. Sie hat einige Mühe, eine für ihre Kabinettsposition politisch korrekte Formulierung zu finden. An diesem Freitagvormittag dauert es gar nicht so lange, da ist die Sache für Richard Seelmaeker klar. „Wir haben einen Bundeskanzler, der die Unwahrheit gesagt hat. Das steht seit heute fest“, zieht der CDU-Bürgerschaftsabgeordnete schon in der ersten Kaffeepause eine Bilanz der auf rund neun Stunden angesetzten Zeugenvernehmung im Hamburger Cum-Ex-Untersuchungsausschuss. „Kein Mensch in dieser Bundesrepublik glaubt diesem Mann, dass er sich in so einem Fall an nichts erinnert.“ Ende der Durchsage. Ganz so einfach ist es natürlich nicht. 13 Zeugen werden an diesem Tag im großen Plenarsaal des Hamburger Rathauses gehört. Allesamt Mitglieder jenes Finanzausschusses des Bundestags, vor dem der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Jahr 2020 insgesamt dreimal über seine Verstrickung in den Hamburger Cum-Ex-Skandal berichtet hat. Dabei hatte die Stadt Hamburg in den Jahren 2016 und 2017 unter noch immer ungeklärten Umständen auf die Rückzahlung von rund 90 Millionen Euro der Warburg-Bank zu Unrecht erstatteter Steuern verzichtet. Zuvor hatte sich der damalige Hamburger Bürgermeister Scholz mehrfach mit Warburg-Bankchef Christian Olearius getroffen und zu diesen Treffen mehrfach im Berliner Finanzausschuss ausgesagt. Dessen damalige Mitglieder sollen nun zu Protokoll geben, an wie viele Einzelheiten zu diesen Treffen mit Olearius sich Scholz damals tatsächlich erinnern konnte. Was der Kanzler den Berliner Parlamentariern genau gesagt hat. Und ob jene berühmt-berüchtigten scholzschen Erinnerungslücken an den Verlauf dieser Gespräche vorgetäuscht sind. Oder eben doch echt. Am Ende geht es hier darum, ob Scholz dem Bundestag – und später auch der Bürgerschaft – die Wahrheit gesagt hat. Von den drei Finanzausschusssitzungen liegen ausschließlich Kurzprotokolle vor. Die Mitschnitte, die es mindestens von einer der Sitzungen gegeben hat, sollen entsprechend der Regularien des Bundestags nach Erstellung der Kurzprotokolle vernichtet worden sein. Aus ihnen, so sieht es jedenfalls die Opposition im Bundestag wie im Hamburger Parlament, hätte sich heraushören lassen, dass Scholz’ Erinnerungslücken zumindest bei den ersten beiden Auftritten vor dem Finanzausschuss des Bundestags deutlich kleiner gewesen seien. Dass er sich sehr wohl an den Verlauf seiner Gespräche mit Olearius hatte erinnern können. Dass das spätere Nicht-erinnen-Können des Kanzlers nur taktischer Natur sei. Als für die Opposition wichtigsten Zeugen hören die Hamburger Abgeordneten den ehemaligen Linke-Politiker Fabio De Masi, einen langjährigen Scholz-Kritiker. Der 43-jährige, der heute als Autor in Berlin lebt, saß in der vergangenen Legislatur für Hamburg im Bundestag. Er führt im Zeugenstand aus, dass Scholz aus seiner Sicht in den Ausschusssitzungen im März und im Juli 2020 durchaus noch Erinnerungen an – jedenfalls ein – Treffen mit Olearius hatte. „Er könne sich zu Gesprächsinhalten aufgrund des Steuergeheimnisses nicht äußern“, gab De Masi die Aussage von Scholz in Hamburg wieder. „Da hat er sich nicht auf Erinnerungslücken berufen“, so der Ex-Abgeordnete, diese seien erst in der dritten Befragung von Scholz vor dem Bundesfinanzausschuss zum Thema geworden. Diese dritte und letzte Befragung des damaligen Bundesfinanzministers fand Anfang September 2020 in Berlin statt. Wenige Tage darauf wurde in Hamburg die Forderung nach einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss öffentlich. Interessant ist das deshalb, weil sich mit der Einrichtung des Untersuchungsausschusses die Rechtslage für die politische Auseinandersetzung mit dem Cum-Ex-Skandal ändert – auch für Scholz, der seitdem damit rechnen musste, als Zeuge geladen zu werden. Falsche Aussagen vor einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss können mit Haft bestraft werden, Aussagen vor einem gewöhnlichen Parlamentsausschuss nicht. Matthias Hauer, Bundestagsabgeordneter der CDU und bei allen Befragungen von Scholz in Berlin dabei, stützte die Thesen von De Masi. Auch er sagte aus, Scholz habe im März 2020 andere Beweggründe als Erinnerungslücken herangeführt. „Er hat noch gesagt, dass er weitere Ausführungen zu dem Treffen machen könnte, dass aber das Steuergeheimnis ihn daran hindere.“ Genau deshalb, so Hauer, habe man ja eine weitere Sitzung des Gremiums einberufen. Ein anderes Bild zeichnen in Hamburg die befragten SPD- und FDP-Bundestagsabgeordneten. So schildert der SPD-Abgeordnete Michael Schrodi, dass Scholz aus seiner Sicht in allen drei Ausschusssitzungen dasselbe ausgesagt habe. Dass der heutige Bundeskanzler schon in der ersten Sitzung des Finanzausschusses keine eigenen Erinnerungen an die Treffen mit Olearius gehabt habe und außer den schon damals laut Presseberichten bekannten Tatsachen nichts zur Aufklärung des Sachverhaltes beitragen könne. Scholz, findet Schrodi, habe von Beginn an gesagt, „er könne das selbst nicht erinnern“. Paus tut sich schwer Letzter Höhepunkt dieses langen Tages im Hamburger Rathaus ist der Auftritt der heutigen Familienministerin Lisa Paus. Die Grünen-Politikerin gehörte bis zu ihrem Wechsel in die Bundesregierung zu den besonders scharfen Kritikern von Olaf Scholz‘ Umgang mit dem Cum-Ex-Skandal. Vor dem Hamburger Untersuchungsausschuss tut sich die 54-Jährige dagegen sichtlich schwer. Sie verliest ein vorformuliertes Statement, in dem sie betont, dass sie damals zu ihren Vorwürfen gestanden habe. Als verschiedene Abgeordnete Nachfragen stellen, setzt Paus mehrfach an, um am Ende eine für ihre heutige Position als Mitglied des Kabinetts Scholz politisch korrekte Formulierung zu finden. Aus ihrer damaligen Funktion heraus, so die Ministerin, sei die pointierte Bewertung der Aussagen von Scholz „berechtigt“ gewesen. Ob sie heute noch aufrechtzuerhalten seien, müssten jetzt die Abgeordneten beurteilen, nicht sie. Aufgabe des Hamburger Untersuchungsausschusses ist es, herauszufinden, ob führende Hamburger SPD-Politiker Einfluss auf die steuerliche Behandlung der Warburg Bank genommen haben. Scholz, der in der fraglichen Zeit Hamburger Bürgermeister war, hat entsprechende Vorwürfe ebenso stets zurückgewiesen wie sein Nachfolger und früherer Finanzsenator Peter Tschentscher (SPD). Scholz hatte sich in den Jahren 2016 und 2017 mehrmals mit dem Bank-Gesellschafter Olearius getroffen. Die Opposition vermutet, dass Bürgermeister und Finanzsenator danach Einfluss auf die Entscheidung der Steuerverwaltung genommen hat, der Warburg-Bank die zu Unrecht erhaltenen Steuerrückzahlungen zu erlassen. Mittlerweile hat die Bank das Geld an den Fiskus zurückgezahlt. Finanziell ist der Hamburger Cum-Ex-Skandal damit erledigt. Politisch und juristisch dagegen nicht. So muss sich Olearius demnächst vor dem Landgericht Bonn für die Cum-Ex-Geschäfte der Warburg-Bank verantworten. Und Olaf Scholz wird demnächst auch in Berlin vor einem Untersuchungsausschuss erscheinen müssen, um seine Sicht auf die damaligen Ereignisse noch einmal zu schildern. Das Verhalten des heutigen Bundeskanzlers in Sachen Cum-Ex, so heißt es in einem Entwurf des Einsetzungsantrags für den Bundestag werfe „schwerwiegende Fragen“ auf. In Hamburg zieht der SPD-Obmann im Cum-Ex-Untersuchungsausschuss, Milan Pein, eine gänzlich andere Bilanz der freitäglichen Zeugenvernehmung als sein CDU-Kollege Seelmaeker. Die Befragung der Zeugen, so Pein, habe den Inhalt der Protokolle des Bundestagsfinanzausschusses bestätigt. „Einen Widerspruch in den Aussagen von Olaf Scholz gibt es nicht.“ Die Suche nach der Wahrheit in Sachen Cum-Ex, sie geht weiter.