Sunday, April 23, 2023
Bilanz nach 180 Tagen im Amt: Giorgia Meloni wollte die Boote stoppen - doch scheitert
Merkur
Bilanz nach 180 Tagen im Amt: Giorgia Meloni wollte die Boote stoppen - doch scheitert
Artikel von Bettina Menzel • Vor 35 Min.
Italiens Ministerpräsidentin
Die rechtsextreme Ministerpräsidentin Giorgia Meloni fährt beim Thema Migration einen harten Kurs, doch kann ein Wahlversprechen trotzdem nicht halten.
Rom - Seit rund 180 Tagen regiert die postfaschistische Politikerin Giorgia Meloni Italien. Ihr Wahlkampf war geprägt von Anti-Einwanderungs-Parolen und sie versprach, Migrantenboote nach Italien zu stoppen. Die ersten 100 Tage im Amt waren für die rechtsextreme Fratelli d‘Italia-Politikerin ein Erfolg. Doch dann landete ein Boot nach dem anderen an den Küsten Italiens und Meloni rief vor rund zwei Wochen angesichts der steigenden Zahlen den Notstand aus. Die Migrationskrise ist allerdings nicht das einzige Problem der italienischen Staatschefin.
Italienische Ministerpräsidentin erlässt neues Dekret: „Aufforderung zum Ertrinkenlassen“
Das Bündnis der Rechtsparteien aus Forza Italia unter Führung des Ex-Regierungschefs Silvio Berlusconi, der rechten Lega mit Parteichef Matteo Salvini und der postfaschistischen Fratelli d‘Italia („Brüder Italiens“) unter Giorgia Meloni erhielt bei den italienischen Parlamentswahlen im vergangenen Jahr die absolute Mehrheit. Von vier Prozent bei den letzten Wahlen war Melonis Partei mit nun 26 Prozent zur stärksten Kraft aufgestiegen. In einer ihrer ersten Amtshandlungen machte die neue italienische Ministerpräsidentin dann das, was die rechte Wählerschaft erwartete: Rechte Politik.
Im Dezember erließ die Ministerpräsidentin ein Dekret, das Seenotretter verpflichtete, nur eine Rettungsaktion pro Einsatz auszuführen. Schnell wurde Kritik laut. „Das neue Dekret der italienischen Regierung ist eine Aufforderung zum Ertrinkenlassen“, sagte etwa Oliver Kulikowski vom deutschen Verein Sea-Watch. Es seien die tödlichsten drei Monate im zentralen Mittelmeer seit 2017 gewesen, bestätigte die Internationalen Organisation (IOM) für Migration im April diese Befürchtung. Die Überfahrt über das Mittelmeer ist angesichts der hohen Opferzahlen laut IOM die gefährlichste Seeüberquerung der Welt.
Seit Beginn des Jahres kamen viermal mehr Migranten per Boot nach Italien als im Jahr zuvor
Die Boote nach Italien zu stoppen, war eines von Melonis wichtigsten Wahlversprechen. Aus Sicht von Migrationsexperten offenbar ein unmögliches Unterfangen. Boote auf ihrer letzten Etappe auf der Reise nach Europa aufzuhalten, bekämpfe nur ein Symptom, nicht das Problem selbst. „Wenn Sie Migrationsexperten fragen, ob sie Boote stoppen könnte, wäre die Antwort nein“, sagte Hanne Beirens, Direktorin des Migration Policy Institute Europe dem Fernsehsender CNN. Das einzige, was Migration jemals gestoppt habe, sei die Corona-Pandemie gewesen, ergänzte die Expertin.
Dafür sprechen auch die Zahlen. Im ersten Quartal dieses Jahres kamen bereits viermal mehr Menschen nach Italien als im Vorjahreszeitraum. Das Innenministerium in Rom registrierte in den ersten drei Monaten mehr als 31.000 Menschen, die auf Booten Italien erreichten oder im Mittelmeer gerettet und an Land gebracht wurden. Viele Erstaufnahmelager sind überfüllt, das Camp auf der Mittelmeerinsel Lampedusa etwa beherbergt 1800 Menschen, obwohl es eigentlich für maximal 400 Personen ausgelegt sei, wie die Nachrichtenagentur Ansa berichtete.
Meloni ruft Nostand aus: Überforderung oder kluger Schachzug, um sich Zeit zu verschaffen?
Aus Sicht der Opposition war das Ausrufen des Notstands wegen Migration - statt eines Erdbebens oder einer Dürre - Anlass für Kritik. Meloni habe den Notstand beschlossen, „weil sie nicht in der Lage ist, die Ankünfte von Migranten zu bewältigen [...]“, schrieb Giuseppe Conte, Italiens Ex-Ministerpräsident auf Facebook. Es sei eine Schande, die Geflüchteten schon von der Wortwahl her wie eine Katastrophe zu behandeln, kritisierte die Gemeinderätin Marwa Mahmoud.
Elly Schlein, Vorsitzende der demokratischen Partei, verglich das Dekret gar mit einer Maßnahme aus der faschistischen Ära Italiens. Meloni selbst könnte das womöglich sogar als Kompliment verstehen, gilt sie doch als Bewunderin des „Duce“. Der schwarze Strich im Logo ihrer Partei Fratelli d‘Italia soll den Sarg Benito Mussolinis andeuten, aus dem sein Geist in Form der Flamme lodert.
Politikbeobachter sehen im Ausrufen des Notstands für den Zeitraum von sechs Monaten auch die Möglichkeit der Regierung, sich Zeit zu verschaffen. Zudem sende es eine Botschaft an das Land, dass das Problem ernsthaft angegangen werde, meint Giovanni Orsina, Direktor der School of Government an der Luiss Guido Carli University in Rom zu CNN. Konkret kann die Regierung nun auch schneller finanzielle Mittel bereitstellen, einfacher neue Aufnahmezentren für Flüchtlinge errichten, sowie Maßnahmen umsetzen, ohne das Parlament mit einzubeziehen. Der Notstand ermögliche auch schnellere Abschiebungen, hieß es aus Regierungskreisen.
Ende des „Luna di Miele“: Wählerschaft steht weiter hinter Meloni, doch Zustimmung sinkt
Schon im Januar war von einem Ende der Flitterwochen mit der italienischen Wählerschaft die Rede. Denn als Oppositionsführerin hatte Meloni über Jahre hinweg die Abschaffung von Treibstoffzöllen gefordert, als Ministerpräsidentin hatte sie sich indes nicht dagegen gestemmt - obwohl das Einfrieren genau dieser Zölle in ihrem Wahlprogramm stand. Die Glaubwürdigkeit der postfaschistischen Politikerin schien zu bröckeln.
Noch halten die Wähler aber offenbar zu Italiens Ministerpräsidentin. Eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Termometro Politico sieht die Unterstützung für Melonis Partei bei rund 29 Prozent. Ende Februar lagen die Fratelli d‘Italia mit 31,1 Prozent allerdings noch weiter vorn in der Wählergunst. Unklar ist, ob die Wähler Meloni wegen des Zuwanderungsthemas abstrafen.
Doch Migration ist aus Sicht des Politikberaters Francesco Galietti von Policy Sonar ohnehin nicht Melonis größtes Problem. „Meloni wird nicht von Migranten gelähmt werden, aber wenn sie nicht aus dem Seidenstraßenabkommen mit China aussteigen kann und es entschlossen tut, dann wird sie keine Einladung ins Weiße Haus bekommen“, so Galietti zu CNN. Im Jahr 2019 hatte sich Italien als erstes G7-Land mit China auf eine „Neue Seidenstraße“ geeinigt, Rom war dafür von EU-Partnern scharf kritisiert worden.