Sunday, April 30, 2023

Der deutsche Sonderweg zur Migration

Frankfurter Allgemeine Zeitung Der deutsche Sonderweg zur Migration Artikel von Jochen Buchsteiner • Vor 6 Std. 350.000 neue Anträge bis Ende des Jahres erwartet: Asylbewerber vor der Essensausgabe in der Landeserstaufnahmestelle Ellwangen Mehr als 88.000 Menschen beantragten zwischen Januar und Ende März Asyl in Deutschland, die meisten von ihnen Syrer, Afghanen und Türken. Bis Jahresende werden nach Schätzungen 350.000 neue Migranten und Flüchtlinge aus außereuropäischen Ländern gekommen sein – deutlich mehr als 2022; und fast alle werden bleiben. Die Situation sei „schärfer als 2015“, warnte Serap Güler aus dem CDU-Vorstand. Kommunalpolitiker schlagen seit Wochen Alarm und sehen die Aufnahmekapazitäten erschöpft. Die Deutsche Polizeigewerkschaft bezeichnete den Mangel an Grenzschutz, Obergrenzen und Geld als „gefährlichen Cocktail, der die Stimmung im Land kippen lässt“. Allein, es passiert nichts, jedenfalls nichts, was den Zustrom begrenzt. In der Regierung, im Bundestag und in den Talkshows wurde in den vergangenen Wochen nicht über Asyl geredet, sondern über Heizungen. Anderswo in Europa haben Regierungen den Hebel umgelegt. Das europäische Asylsystem sei „kaputt“, heißt es in Kopenhagen. Wien wirbt für mehr Abschottung. Unlängst erhöhten die beiden Länder, zusammen mit Griechenland, der Slowakei, Malta und den baltischen Staaten, den Druck auf die EU-Kommission. In einem Brief nannten die Regierungschefs die Lage „zutiefst be­sorgniserregend“. Nationale Maßnahmen Bald abgefertigt in Ruanda? Migranten schlagen sich im September 2020 über den Ärmelkanal nach England durch. Viele Länder haben nationale Maßnahmen ergriffen, weil aus Brüssel keine Hilfe kommt. Die Arbeit am neuen Gemeinsamen Europäischen Asylsystem geht nur schleppend voran, auch weil „der Prozess der Findung einer geeinten deutschen Position noch nicht abgeschlossen ist“, wie das Innenministerium am Dienstag in bemerkenswerter Offenheit dem Innenausschuss per Mail mitteilte. Litauen und Polen weisen Migranten und Flüchtlinge aus Belarus ab. Frankreich nutzt „push-backs“ an der Grenze zu Italien, wo wiederum wegen der anschwellenden Migration der Notstand ausgerufen wurde. Das Schengen-System überlebt nur noch mit Ausnahmebestimmungen, während das Dublin-Abkommen, nach dem das Erstaufnahmeland für das Asylverfahren zuständig ist, nur noch auf dem Papier existiert. In Deutschland, wo die meisten Asylanträge gestellt werden, herrscht angesichts der Lage eine fast irritierende Gelassenheit. Bundesinnenministerin Nancy Faeser beruhigte unlängst mit den Worten, dass die aktuelle Situation „nicht in die Überforderung führt“ und bekräftigte, dass „Humanität keine Höchstgrenze kennt“. Gegenüber der F.A.S. versichert die SPD-Politikerin, dass man „diesen großen humanitären Kraftakt gemeinsam schultert“, also mit den Ländern und Kommunen – und verweist auf neue Integrationsprogramme. Statt Begrenzung zu priorisieren, er­leichtert die Regierung sogar das Kommen, etwa für syrische und türkische Erdbebenopfer. Geht Deutschland, wie schon beim Atomausstieg, einen europäischen Sonderweg? Der deutsche Sonderweg zur Migration In der CDU wird das bejaht. Der Innenpolitiker Philipp Amthor hält der Koalition vor, die Augen zu verschließen und das „gesellschaftliche Disruptionspotential“ einer überhöhten Einwanderung zu verkennen. Als Warnbeispiel dient Schweden, das 2015 pro Kopf mehr Menschen als Deutschland aufnahm. Dort spricht die Migrationsministerin mittlerweile von „bitteren Erfahrungen“ und erwähnt den „starken Anstieg schwerer Gewaltkriminalität“ sowie islamistische Unterwanderung von Institutionen. Mit dem „Paradigmenwechsel“ soll nun „eine Einwanderung erreicht werden, die wir meistern können“. Der britische Migrationsfachmann David Goodhart sieht alle wohlhabenden Länder Europas vor demselben Problem. Deutschland befinde sich aber in einem „speziellen Dilemma“. Wegen des Nazi-Erbes sei der Nation die Einbettung in internationale Rechtssysteme besonders wichtig. Das erschwere es ihr, völkerrechtliche Spielräume auszunutzen, was das Problem nur verschärfe: „Die Schlepper wissen das, weshalb so viele Asylbewerber in Deutschland landen.“ Asylverfahren in Afrika Beim Versuch, die irreguläre Migration zurückzudrängen, gehen die Briten am weitesten. Am Mittwoch verabschiedete das Unterhaus ein Gesetz, mit dem Asylanträge in Ruanda abgearbeitet werden können. Die Hoffnung ist, dass es Migranten vor riskanten Bootsüberfahrten abschreckt, wenn sich erst herumspricht, dass das Erreichen britischen Bodens mit einem Asylverfahren in Afrika endet. Erste in der CDU halten „die Grundidee für nicht verkehrt“. Auch die dänische Regierung verhandelte schon mit Ruanda, wirbt jetzt aber für ein europäisches Aufnahmezentrum jenseits der Grenzen – und will Bewegung in der EU erkannt haben. Faeser winkt zumindest nicht ab. „Ob die Feststellung eines Schutzstatus in Drittstaaten möglich ist, das prüfen wir.“ Doch die Hürde, das zeigt das Londoner Experiment, ist hoch. Zwar erklärten britische Gerichte die Verlegung der Asylverfahren für rechtens, aber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, Hüter und Entwickler der Europäischen Menschenrechtskonvention, stoppte den ersten Flug nach Ruanda. Goodhart spricht von einem „hochgradig politischen Gericht, das den Zugang für Flüchtlinge maßgeblich liberalisiert hat“. London werde die Konvention deshalb wohl aufkündigen. Faeser verteidigt dagegen die Konvention und ihre Auslegungen durch die EU, weil sie „die Grundlage für die nationalen und internationalen Rechtsnormen und Standards bilden“. Unterschiedliche Bewertungen seien „ein normaler völkerrechtlicher Vorgang.“ Das ist dem Mi­grationsfachmann Kay Heilbronner zu unentschieden. Er sieht in der Rechtsprechung des Straßburger Gerichts den Kern des ungelösten Asylproblems. „Wer kommt, der bleibt“ „Ohne einen neuen Rechtsrahmen durch gemeinsame Absprachen und Vereinbarungen der europäischen Aufnahmestaaten über eine restriktivere Auslegung des Flüchtlingsrechts bleiben alle derzeit diskutierten Begrenzungsmaßnahmen politische Kosmetik“, sagt der Rechtsprofessor. Zu diesen zählt der oft geforderte Schutz der EU-Außengrenzen, der wirkungslos bleiben werde, so­lange die Grenzbeamten nicht zurückweisen dürften. Selbst Aufnahmelager jenseits der EU stießen rasch an Grenzen, würden die Verfahren dort weiterhin nach gängigem Asylrecht durchgeführt. Heilbronner kritisiert vor allem den Ausbau des Artikels 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, nach dem niemand „erniedrigender Behandlung“ unterworfen werden darf, zu einer allgemeinen „Schutzpflicht“. Daraus resultierten das Rückweisungsverbot an den Grenzen und die aus den Fugen geratenen Asylverfahren. Die Standards und Regeln müssten „deutlich reduziert“ werden. Das geltende Asylrecht bringt er auf die Formel: „Wer kommt, bleibt.“ Das wird in Berlin nicht als Problem gesehen. Angesprochen auf die wachsende Asylbewerberzahl, verweist Faeser auf den „Gesamtzusammenhang“ und spricht lieber über die ukrainischen Kriegsflüchtlinge, die 78 Prozent ausmachten. Aber die Ukrainer brauchen für ihren Aufenthalt kein Asyl, auch weil viele das Land so bald wie möglich wieder verlassen wollen. Ihre Zahl sinkt, während die der Asylbewerber steigt. Befragt nach wirksamen Maßnahmen gegen irreguläre Migration nennt Faeser sporadische Kontrollen an der deutschen Grenze und beschleunigte Asylverfahren. Eine Begrenzung des Zustroms erhofft sie sich nur von „Migrationsabkommen mit Herkunftsländern“ – wann und wie ist unklar. Akzeptanz für die Neuankömmlinge Das wirft die Frage auf, was die Regierung zurückhält. Fast niemand behauptet noch, Migration schade dem Land. Es hat sich herumgesprochen, dass der Ar­beitsmarkt Zuwanderung braucht. Auch macht sie eine Gesellschaft potentiell offener und kreativer. Der britische Einwanderungsexperte Paul Collier wies allerdings darauf hin, dass dieser Effekt umschlagen kann: Zuviel Zuwanderung fördert Reibung und verringert die Akzeptanz für die Neuankömmlinge. Die Bürger wissen, dass Steuerung nicht einfach ist. Die Aufnahme der Ukrainer war ein Gebot europäischer Solidarität. Auf die regulären Einwanderer wiederum, die mit einem Arbeitsvertrag kommen, ist das Land angewiesen. Von den fast 900.000 Asylbewerbern hingegen, die 2015 ins Land kamen, lebt heute fast die Hälfte ganz oder teilweise von staatlicher Unterstützung. Das ergibt sich aus Berechnungen des Migrationsforschers Herbert Brücker. Bislang fehlt eine nüchterne Be­standsaufnahme, wie sie andernorts er­hoben wurde. Die deutsche Bevölkerung ist in den vergangenen zehn Jahren um mehr als sechs Millionen gewachsen. 41 Prozent der Kinder unter fünf Jahren haben nun Migrationshintergrund. Viele weisen darauf hin, dass es neben gelungener Integration auch Unwillen gebe, Kultur und Sprache der neuen Heimat anzunehmen, was die Schulen belastet. Zugenommen hat auch der Druck auf den Wohnungsmarkt und das Gesundheitssystem, deren Ausbau mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt hält. Trotz dieser Herausforderungen fehlt es in Deutschland an einer ehrlichen De­batte über die Migration und deren gewünschte Größenordnung. Orientierung könnte der Konsens bieten, der sich in Schweden, Großbritannien und anderen Traditionsdemokratien herausgeschält hat: dass es die irreguläre Migration zu stoppen gilt, während die Ge­samtzuwanderung an den Bedürfnissen und Integrationskapazitäten der Aufnahmegesellschaft auszurichten ist. Zu suchen, schrieb Collier einmal, sei der „glückliche Mittelwert“.