Wednesday, June 22, 2022
Russische Scharfmacher drohen Kasachstan ein ähnliches Schicksal wie der Ukraine an
Neue Zürcher Zeitung Deutschland
Russische Scharfmacher drohen Kasachstan ein ähnliches Schicksal wie der Ukraine an
Markus Ackeret, Moskau - Vor 5 Std.
|
4
Teilen
Manchmal gibt es Vorkommnisse, an deren Zufälligkeit wenige glauben wollen. In der südrussischen Hafenstadt Noworossisk müssen in nächster Zeit genau dort, wo die wichtigste Erdölpipeline aus Kasachstan ankommt und wo deren Inhalt auf Tanker verladen wird, Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg geborgen werden. Dadurch wird die Verschiffung von Erdöl aus Kasachstan stark erschwert. 80 Prozent des kasachischen Rohstoffs werden über diese Leitung zum Schwarzen Meer gepumpt.
Kasym-Schomart Tokajew, der Präsident von Kasachstan, hat den russischen Präsidenten Wladimir Putin verärgert.
Für den Erdölexporteur, dessen Einnahmen zu wesentlichen Teilen aus der Ausfuhr fossiler Rohstoffe bestehen, ist das keine Kleinigkeit. Noworossisk war im Zweiten Weltkrieg hart umkämpft; der Fund alter Munition ist nicht verwunderlich. Aber der Zeitpunkt hat Zweifel geweckt: Handelt Russland gerade jetzt, um den zentralasiatischen Nachbarn und seinen Präsidenten Kasym-Schomart Tokajew in die Schranken zu weisen?
Tokajew spricht vor Putin Klartext
Die unplanmässigen Bergungsarbeiten in Noworossisk wurden just bekannt, als Tokajew wegen seines Auftritts am Wirtschaftsforum in St. Petersburg in aller Munde war. Als einziger ausländischer Staatschef war er persönlich zu der von der Prominenz gemiedenen Veranstaltung gereist und hatte an der Seite des russischen Präsidenten Wladimir Putin einen Auftritt. In seiner Rede pries er die Chancen verstärkter Wirtschaftszusammenarbeit in Eurasien, kritisierte aber auch die von Russland betriebene Importsubstituierung und die Gegensanktionen des Kremls gegen den Westen.
In der anschliessenden Diskussion in Anwesenheit Putins legte der frühere Diplomat und Sinologe auf offener Bühne dar, dass Kasachstan im Dilemma zwischen Gewährleistung der territorialen Integrität von Staaten und dem Recht auf Selbstbestimmung von Völkern Ersterem den Vorzug gebe. Daher werde er auch die «pseudostaatlichen» Gebilde Donezk und Luhansk nicht als unabhängige Staaten anerkennen. Eine eindeutige Aussage dazu, wie Kasachstan zu Russlands Krieg gegen die Ukraine steht, vermied Tokajew.
Sein klares Bekenntnis zur territorialen Integrität der Ukraine wurde in den sozialen Netzwerken von den einen als Sensation gefeiert, von anderen als Affront gegenüber dem Gastgeber Putin gewertet. Er nutzte überdies den Auftritt dazu, diejenigen russischen Abgeordneten, Kulturschaffenden und Journalisten in die Schranken zu weisen, die immer wieder mit ähnlichen Argumenten wie gegenüber der Ukraine die Souveränität Kasachstans infrage stellen.
Der Rahmen dafür war durchaus pikant: Putin hatte kurz davor in der Diskussion gesagt, die ganze ehemalige Sowjetunion sei historisch gesehen russisch. Als Moderatorin diente Margarita Simonjan, die Chefredaktorin des Senders RT und eine der radikalsten Propagandisten Moskaus. Ihr Ehemann Tigran Keosajan hatte jüngst Kasachstan in seinem Youtube-Kanal unverblümt mit dem «Ukraine-Szenario» gedroht.
Nur ein abgekartetes Spiel?
Eine direkte Antwort auf Tokajews Aussagen in St. Petersburg kann die Teilsperrung des Noworossisker Hafens nicht sein. Ein Zusammenhang mit Kasachstans Positionierung in der Frage der westlichen Sanktionen und des Ukraine-Krieges ist dennoch naheliegend. Zum einen hatte Tokajew in einem Interview mit einem russischen Fernsehsender gesagt, sein Land werde die Sanktionen nicht übernehmen, aber sich an sie halten.
Zum andern war auch in den Wochen davor schon klargeworden, dass Kasachstan nicht mit Inbrunst an Russlands Seite gegen die Ukraine steht. Beides empfinden manche in Russland als Verrat. Auch Tokajews Aussage zu den Donbass-«Volksrepubliken» ist vor allem wegen ihres Kontextes bemerkenswert. Grundsätzlich war die Haltung dazu schon länger klar.
Der kasachische Oppositionsaktivist Sergei Duwanow hält Tokajews Auftritt in St. Petersburg sogar für ein abgekartetes Spiel. Tokajew habe ihn genutzt, um nach aussen Kasachstans Eigenständigkeit gegenüber Russland und nach innen seine eigene Unabhängigkeit von Putin zu betonen. Putin wiederum profitiere davon, wenn Kasachstan nicht in den Verdacht gerate, das Sanktionsregime zu verletzen. Das mit Russland in der Eurasischen Wirtschaftsunion verbundene Nachbarland helfe so, gewisse Auswirkungen der westlichen Beschränkungen zu mildern.
Starker Einfluss der russischen Propaganda
Es gibt gleichwohl genügend Gründe für Kasachstan, im gegenwärtigen Umfeld besonders vorsichtig zu sein und zugleich Klarheit zu demonstrieren. Der kasachische Kurs der «Multivektoralität», einer nach allen Seiten ausbalancierten Aussenpolitik, war bereits im Januar unter Druck geraten. Damals hatte Tokajew zur Niederschlagung der heftigen Unruhen das von Russland angeführte Militärbündnis ODKB zu Hilfe gerufen. Die Truppen beendeten ihren Einsatz zwar rasch, und die Befürchtung, Russland könnte sich längerfristig in Kasachstan einnisten, erfüllte sich vermutlich auch wegen des bereits in Vorbereitung befindlichen Krieges gegen die Ukraine nicht.
Seither muss Tokajew aber unter Beweis stellen, dass er nicht in die Abhängigkeit des mächtigen Nachbarn geraten ist. Mit Russland ist Kasachstan über die ODKB, die Eurasische Wirtschaftsunion und weitere Organisationen politisch, militärisch und wirtschaftlich eng verzahnt. Die provokativen Äusserungen des Propagandisten Keosajan haben damit zu tun. Russischen Nationalpatrioten ist Tokajew zu wenig dankbar für die erbrachte Hilfe. Zugleich wissen sie um eine machtvolle Ressource im Nachbarland: die russischsprachige und russischstämmige Bevölkerung.
Das russische Fernsehen ist mancherorts populärer als das einheimische, entsprechend wirksam ist die Propaganda, und entsprechend viele Ansatzpunkte für die Aufwiegelung gibt es. So versucht Moskau, die öffentliche Meinung in Kasachstan zugunsten der «Spezialoperation» zu beeinflussen. Putin sprach früher schon Kasachstan eine Tradition der Eigenstaatlichkeit ab. Duma-Abgeordnete und Meinungsmacher halten den von ethnischen Russen dominierten, in das südsibirische Steppenland nahtlos übergehenden Norden Kasachstans für eigentlich russisches Land. Immer wieder muss sich die kasachische Führung gegen Vorwürfe aus Russland wehren, der Nationalismus nehme überhand und Russischsprachige würden diskriminiert.
Nach Tokajews Auftritt in St. Petersburg wiederholte der Parlamentarier Konstantin Satulin alte Drohungen. Solange es Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft gebe, würden keine territorialen Ansprüche erhoben. Sonst sei alles möglich – wie im Fall der Ukraine. Die Position ist zwar nicht neu. Aber seit dem 24. Februar gibt es keine Zweifel: Es ist mit allem zu rechnen. Auch deshalb wecken folgenschwere Ankündigungen wie diejenige der Hafenbehörden in Noworossisk sofort Argwohn.