Wednesday, June 29, 2022

Georgien und die EU: Georgien könnte eine historische Chance verspielen

ZEIT ONLINE Georgien und die EU: Georgien könnte eine historische Chance verspielen Shalva Dzidziguri - Vor 3 Std. Ukraine und Moldau rücken näher an die EU. Derweil läuft Georgiens Regierung Gefahr, an ihrer eigenen Unentschlossenheit zu scheitern. Die Proteste dürften wachsen. Die Mehrheit der Georgierinnen und Georgier strebt nach Europa. Doch die Regierung zögert – und die Menschen protestieren dagegen. Der Angriffskrieg Russlands hat der Ukraine, aber auch der Republik Moldau und Georgien neue Perspektiven eröffnet, sich enger an Europa zu binden. Doch die georgische Regierung gibt sich zögerlich und die Bevölkerung beginnt wütend zu protestieren. Der Politikwissenschaftler Shalva Dzidziguri fürchtet, dass sich da gerade einiges entfremdet. Es vergangene Woche in Georgien die nach zwei Corona-Jahren lange erwarteten Sommerferien begannen, zog es Tausende Georgierinnen und Georgier nach draußen – allerdings nicht in die Natur, sondern in die Hauptstadt Tiflis, um an einer der größten Demonstrationen seit der Unabhängigkeit vor etwas mehr als 30 Jahren teilzunehmen. Über 100.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer schwenkten georgische und EU-Flaggen. Die gesamte Rustaveli Avenue, in der das georgische Parlament seinen Sitz hat, war voller Menschen. Auslöser der Proteste war eine Empfehlung der EU-Kommission an den Europäischen Rat, die Ukraine und die Republik Moldau zu EU-Beitrittskandidaten zu machen, Georgien allerdings nicht. Die drei Länder verbindet das Streben Richtung Europa und der Umstand, dass Russland darüber wütend ist und diese Tendenz zu unterdrücken versucht. Sie alle haben bereits einen holprigen Weg in Richtung europäischer Integration hinter sich, sie alle tragen ein schweres Erbe aus der Sowjetzeit – etwa einen schwachen Staat, eine politisch polarisierte Gesellschaft und ungelöste territoriale Konflikte mit Russland. Doch unter den drei Ländern schaffte es Georgien am besten, die Korruption zu bekämpfen, und in manchen wirtschaftlichen Belangen schaffte das Land es sogar, einige EU-Mitgliedstaaten zu überholen. Doch nun geht es wieder abwärts, die Proteste zeigen das. Von den Demonstrierenden gingen zwei Botschaften aus, eine nach außen und eine nach innen. Die nach außen richtete sich an die EU selbst. Sie lautete: Schaut her, Georgien ist ein geschlossen proeuropäisches Land. Die nach innen war die weitaus wütendere, sie richtete sich an die eigene Regierung und hieß: Setzt unseren Willen um und tut alles dafür, dass wir uns Europa annähern. Denn offensichtlich war die EU-Kommission nicht der Auffassung, dass die Regierung in Tiflis alles tut, um den Kandidatenstatus zu erreichen. Und so verlieh sie ihn drei Tage später an die Republik Moldau und die Ukraine, während sie Georgien lediglich eine Beitrittsperspektive aufzeigte, verbunden mit einer Hausaufgabenliste über zwölf Punkte, die abgearbeitet werden müsse, bevor es das Land es in einem halben Jahr erneut probieren kann. Wieder gingen daraufhin Tausende Georgierinnen und Georgier auf die Straße, diesmal frustriert und mit einem Ultimatum an die eigene Regierung: Der Ministerpräsident solle zurücktreten und den Weg freimachen für eine Interimsregierung, die in der Lage wäre, die Forderungen aus Brüssel umzusetzen. Andernfalls wolle man andauernde Proteste im ganzen Land organisieren. Da laut einer Umfrage 88 Prozent der Georgierinnen und Georgier eindeutig für eine europäische Annäherung sind und die Zahl seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine noch wächst, wird sich die Regierung auf unruhige Zeiten einstellen müssen. Was in Georgien gerade passiert, kann man als Entfremdung zwischen Volk und Volksvertretern bezeichnen. Eine Entfremdung zwischen den proeuropäischen Bürgerinnen und Bürgern auf der einen Seite und auf der anderen einer Regierung, die sich in dem unmöglichen Spagat versucht, sich Europa anzunähern und gleichzeitig Russland nicht zu reizen. Das hat auch etwas mit einer historischen Angst zu tun. An allen Straßenecken blau-gelbe Flaggen der Ukraine Als Russland am 24. Februar die Ukraine überfiel, kam in vielen Georgierinnen und Georgiern ein Gefühl von Déjà-vu auf. Erinnerungen an den Fünf-Tage-Krieg im August 2008 wurden geweckt, als Russland aus Angst davor, keinen Einfluss mehr auf Georgien zu haben, einen Angriff provozierte, um das Land anschließend für sein Streben nach Europa zu bestrafen. Seitdem sind die Regionen Abchasien und Südossetien unter russischer Kontrolle. Aus dieser leidvollen Erfahrung heraus zeigt die große Mehrheit der Georgierinnen und Georgier seit dem ersten Tag der russischen Invasion in der Ukraine volle Solidarität mit dem Land, während die georgische Regierung in selbstzerstörerischer Art und Weise versucht, zwischen einem Standpunkt an der Seite der Ukraine und den eigenen russischen Verflechtungen zu balancieren. An nahezu allen Straßenecken kann man seit Kriegsbeginn die blau-gelben Flaggen der Ukraine sehen, Privatpersonen und Firmen sammelten Spenden oder boten Geflüchteten Unterkunft an. Doch zur gleichen Zeit weigerte sich die politische Führung in Tiflis, den Kreml offiziell zu kritisieren und sich den internationalen Sanktionen gegen Russland anzuschließen. Stattdessen kritisierte sie sogar die Ukraine mit dem Vorwurf, das Land wolle Georgien mit in den Krieg hineinziehen. Die Ukraine zog daraufhin ihren Botschafter aus Tiflis ab. Trotz dieser Verwerfungen tat sich mit dem Krieg auch eine einmalige Gelegenheit auf: Die EU hatte kurz nach Kriegsbeginn die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien eingeladen, Bewerbungen als Beitrittskandidatinnen einzureichen. Unter anderen Umständen wären in allen drei Ländern noch viele Jahre und Reformen nötig gewesen, um diesen Punkt zu erreichen. Georgien bewarb sich am 4. März, doch tat seitdem wenig bis gar nichts, um etwas aus dieser Gelegenheit zu machen. Die politische Führung ist nun im Begriff, eine historische Chance zu verspielen. Denn statt die Gelegenheit zu nutzen, griff die Regierung einige EU-Parlamentarier mit harschen Ausdrücken an und nannte sie "Beschützer von Kriminellen", nachdem die EU Georgien dafür kritisiert hatte, dass die Inhaftierung des Chefs des größten regierungskritischen TV-Senders politisch motiviert sei. Ähnlich verstörend war es, dass die Regierung sogar aktiv verhinderte, dass Präsidentin Salome Surabischwili in anderen europäischen Hauptstädten für einen EU-Beitritt Georgiens warb. Man sei weiter als Moldau und die Ukraine, und wenn die den Status eines Beitrittskandidaten bekämen, sei es nur eine Frage der Fairness, dass Georgien ebenfalls davon profitiere. Es gebe keine Notwendigkeit für Lobbyarbeit – so begründete die Regierung ihre Untätigkeit. Die Regierung mag durch ihr Handeln eine direkte Konfrontation mit Moskau vorerst abgewendet haben. In dem verzweifelten Versuch, die eigene Macht zu sichern, riskiert sie jedoch, das Land zurück in den russischen Orbit zu werfen und gleichermaßen den Anschluss an die EU und die eigenen Bürgerinnen und Bürger zu verlieren. Ein ständiges Annähern und Wegbewegen Auch hier wiederholen sich Geschichte und die alten Fehler der Politik. Die proeuropäischen Tendenzen in der Gesellschaft sind spätestens seit der Rosenrevolution 2003 sichtbar, nachdem eine Protestbewegung, bestehend vor allem aus jungen, im Westen ausgebildeten Georgierinnen und Georgiern, die korrupte Regierung unter dem früheren sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse gestürzt hatte. Damals setzte das Land in kurzer Zeit eine Reihe an demokratischen und wirtschaftlichen Reformen um. Innerhalb von nur drei Jahren gelang Georgien die Transformation von einem gescheiterten Staat zu einer jungen Demokratie. Doch vom eigenen Erfolg beflügelt, entwickelte der damalige Präsident Micheil Saakaschwili autoritäre Züge. Organisationen wie Human Rights Watch und die OSZE warfen ihm systematisches Untergraben von Menschenrechten und der Pressefreiheit vor. Saakaschwili blieb bis 2013 Präsident. Kurz zuvor, im Jahr 2012, übernahm Bidsina Iwanischwili die Regierungsgeschäfte als Premierminister – ein Milliardär, der seinen Reichtum Geschäftsbeziehungen nach Russland verdankt. Wieder näherte sich Georgien der EU, schloss 2016 ein Handelsabkommen ab und vereinbarte 2017 Visafreiheit für Georgierinnen im Schengenraum. Und wieder änderte sich das Verhalten der Regierung: Politische Gegner und kritische Medien wurden unterdrückt in dem Versuch, die eigene Macht auszubauen. Es steht jetzt viel auf dem Spiel in Georgien Die zunehmend autokratischen Züge verschlechterten das Verhältnis zur EU seitdem und erreichten 2020 einen Tiefpunkt, nachdem die Opposition der Regierung vorgeworfen hatte, Wahlen manipuliert zu haben. Aus Protest verweigerte sie es sechs Monate lang, ins Parlament einzuziehen. Die EU intervenierte und schlichtete bei den Verhandlungen. Nachdem man sich im April 2021 geeinigt und die Krise beendet hatte, trat die Regierung jedoch aus unerfindlichen Gründen von der Vereinbarung zurück, allen Appellen aus Brüssel zum Trotz. Es steht jetzt viel auf dem Spiel in Georgien. Die Zeit drängt, denn Georgien hat noch weniger als sechs Monate Zeit, um Reformen umzusetzen, bevor die EU-Kommission den Kandidatenstatus erneut prüfen wird. Es ist unwahrscheinlich, dass die Europäische Union große Lust haben wird, sich wieder einzumischen und bei der Problemlösung zu helfen. Die Regierung in Tiflis hat schließlich bereits gezeigt, dass sie Vereinbarungen bricht oder von ihnen zurücktritt. Und trotzdem zeigt die Regierung bisher keinerlei Signale, den Forderungen der Bürgerinnen und Bürger nachzukommen, und steuert so auf eine politische Krise zu. Es ist ein Albtraumszenario, denn damit könnte sich für das Land eine Tür schließen, um deren Öffnung es jahrzehntelang gekämpft hat. Aus dem Englischen übersetzt von Christian Vooren