Tuesday, June 28, 2022

G7-Gipfel: Wie Wolodymyr Selenskyj den Westen retten könnte

Berliner Zeitung G7-Gipfel: Wie Wolodymyr Selenskyj den Westen retten könnte Christian Schlüter - Vor 5 Std. 22 Kommentare Vielleicht wird die Ukraine dereinst als Retterin nicht nur Europas, sondern des gesamten Westens in die Geschichte eingehen. Der Widerstand des Landes gegen die russischen Invasoren könnte wie ein Weckruf die demokratische Staatengemeinschaft aufs Neue versammelt haben. Einer Gemeinschaft, die ohne diesen heldenhaften Widerstand wohl sehr schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen wäre – wie 2014 nach Wladimir Putins Überfall auf die Krim – und aus Russland weiterhin ihre Energie und Rohstoffe beziehen würde. Ein zynische Business as usual, das wohl auch auf dem G7-Gipfel in Elmau seinen allzu schnellen Frieden mit dem Krieg gemacht hätte. Zum Glück hatte Wolodymyr Selenskyj auf Schloss Elmau noch kurz vorbeigeschaut und am Montag per Videoschalte den hier versammelten Staats- und Regierungschefs etwas Mut zugesprochen und vor allem aber, wie schon in den letzten Kriegsmonaten, mit einigem rustikalen Charme den Weg gewiesen. „Die Ukraine hat die Unterstützung der Staaten der ,großen Sieben‘ gespürt“, streute der ukrainische Präsident sein kluges, aufmunterndes Lob, aber ein bisschen mehr Anstrengung müsse schon sein, ließ er zugleich nicht locker, um den Krieg in seinem Land noch in diesem Jahr zu beenden – und forderte mehr Waffen und schärfere Sanktionen gegen Russland. Ein Weckruf, der auch den zunehmenden Bedeutungsverlust des Westens adressiert und die Chance bot, nicht wieder nur mit pompös inszenierten Gipfel-Fotos eine längst vergangene, verlorene Macht zu beschwören. Zur Erinnerung: In Gründerzeiten, also in den Siebzigern, erwirtschafteten die G7-Staaten noch die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung und machten den größten Teil des internationalen Handels unter sich aus. Ihre Gegner, vor allem die Sowjetunion und China, waren arm und rückständig. Heute tragen die G7 noch gerade ein Viertel zu Wirtschaft und Handel bei. Tendenz weiter rückläufig – das westliche Modell scheint nicht mehr attraktiv. An der Russland-Frage entscheidet sich die globale Zukunft des Westens, einer demokratischen und rechtstaatlichen Wertegemeinschaft, die ihre Werte seit jeher Lügen straft, wie sich aktuell etwa bei der Klima- oder Flüchtlingskrise zeigt, die nun aber an einem Wendepunkt steht. Der sogenannte Westen muss beweisen, dass er im Sinne seiner – auch moralisch – universellen Ansprüche handelt und also nicht nur das eigene Wohlergehen im Blick hat. Sondern das der ganzen Welt: Gebietet er Russlands aggressiver, expansionistischer Kriegstreiberei keinen Einhalt, dann verliert er nicht nur in Osteuropa jegliches Vertrauen, sondern seine Glaubwürdigkeit weltweit. Dann nämlich wären seine Werte nichts wert. In globaler Perspektive zeichnet sich schon länger ein Trend zu Autokratie und Protektionismus ab: Das verspricht den schnellen Erfolg, eine offenbar auch im Westen zunehmend verlockende Aussicht, wie etwa der Angriff Donald Trumps auf den amerikanischen Rechtsstaat und Freihandel zeigt. Oder die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen, der ungarische Premierminister Victor Orbán, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan … Ein Kotau vor Russland käme also der vollendeten Selbstaufgabe gleich und wäre der letzte Schritt des Westens in die Bedeutungslosigkeit. Gekrönt von einem Gipfel-Foto mit Alpenpanorama. Auf Schloss Elmau hat man wohl den Schuss gehört. Rhetorisch vollmundig wurde die historische Zäsur beschworen. So verglich der britische Premier Boris Johnson die Unterstützung für die Ukraine im Krieg gegen Russland mit dem alliierten Kampf gegen den Nazi-Diktator Adolf Hitler – der „Preis für die Freiheit“ sei es allemal wert, gezahlt zu werden. Und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz dachte schon an die Zeit danach, man sei „fest entschlossen, den ukrainischen Wiederaufbau zu unterstützen“, und bereite schon einen „Marshallplan“ vor. Kurzum, die G7-Staaten wollen die Ukraine in jeder Hinsicht unterstützen, EU-Mitgliedschaft inklusive. Mit viel Ankündigungsaplomb wird hier der Kampf gegen den Faschismus in Erinnerung gerufen und damit auch die Gründungszene der internationalen Staatengemeinschaft, der Vereinten Nationen. Es geht also um eine neue Weltordnung, eine Zeitenwende in globalem Maßstab. Das ist die Botschaft von Schloss Elmau. Dazu gehört auch: Der Westen – und insbesondere Deutschland – muss sich von seinem ökonomischen Erfolgsmodell verabschieden, wonach er sich in Russland billig mit Gas und Öl versorgt und in China sein schnelles Geld verdient. Der neue Propagandaslogan des Westens heißt stattdessen: Demokratie und Menschenrechte weltweit stärken. Davon sollte beim Gipfel auch der Süden überzeugt werden. Länder wie Indien, Senegal und Südafrika waren nach Schloss Elmau eingeladen worden – Länder, die es in der UN-Vollversammlung abgelehnt hatten, den russischen Einmarsch in der Ukraine zu verurteilen. Länder, für die eine „auf Regeln basierende internationale Ordnung“ ein bislang leeres Versprechen war. Länder, in die wir unsere Probleme externalisieren, unseren Müll und Dreck verklappen. Länder, in denen wir unsere Kriege führen und Menschen im Millionenmaßstab sterben lassen … Diese Länder kennen ganz andere Katastrophen als unseren Kampf gegen den neuen Faschismus. Und so mögen die G7-Staaten nun beschließen, den Süden mit einem 600 Milliarden schweren Infrastrukturprojekt, einer neuen Seidenstraße, an den Westen anzuschließen, vorgeblich um die Teilhabe an unserem Reichtum zu erleichtern. Wenn uns das nur die Ausbeutung von Rohstoffen erleichtern und ansonsten den chinesischen Einfluss in den Entwicklungsländern eindämmen soll: Dann können wir uns das gleich sparen. Der Fortbestand des Westens als demokratischer Wertegemeinschaft wird nur mit dem Süden gelingen und sich an ganz einfachen Fragen bemessen: Hilft sie gegen Hunger und Armut und Tod? Fördert sie Gesundheit und Bildung?