Friday, June 24, 2022
Luftfahrt: Flugchaos zermürbt die Passagiere – „Ein Reisebericht des Grauens“
Handelsblatt
Luftfahrt: Flugchaos zermürbt die Passagiere – „Ein Reisebericht des Grauens“
Koenen, Jens Alvares de Souza Soares, Philipp Matthes, Sebastian Gusbeth, Sabine - Gestern um 06:35
Noch vor Beginn der Ferien im ersten Bundesland gerät die Lage im Luftverkehr außer Kontrolle. Betroffene schildern teils unglaubliche Situationen.
Der Flughafen dürfte als erstes die große Sommerreisewelle zu spüren bekommen. In Nordrhein-Westfalen beginnen an diesem Wochenende die Ferien.
Oliver Santen, Geschäftsbereichsleiter beim Bankenverband, hat es den „Reisebericht des Grauens“ genannt. Vor zwei Tagen wollte er kurzfristig von Berlin nach Frankfurt reisen. Was er erlebte, hat er auf LinkedIn geschildert: ein Chaos in der Luftfahrt, das bisher beispiellos ist.
Eigentlich wollte Santen mit dem ICE fahren, doch zwei Sprinter waren ausgebucht, also musste er auf das Flugzeug wechseln. Am „Weltflughafen BER“ angekommen, trifft er an den Sicherheitskontrollen auf endlose Schlangen. „Nach 67 Minuten Anstehen ist es geschafft“, schreibt Santen.
Doch zwei Minuten später kommt die Nachricht: „Flugzeug-Abfertigung wegen Gewitter eingestellt.“ Schließlich kommt der Jet tatsächlich zum Gate und hebt um 9.59 Uhr ab – Verspätung 74 Minuten. Ankunft in Frankfurt um 10:44 Uhr – das prall gefüllte Flugzeug parkt auf einer Außenposition. Ausstieg über einen Finger? Fehlanzeige.
Die Minuten verrinnen. „Die Tür des Flugzeugs öffnet sich. Vier Status-Passagiere werden namentlich aufgerufen und mit einem Porsche abgeholt. Die restlichen Gäste müssen im Flugzeug warten“, schreibt Santen. Einige Minuten später kommt eine Durchsage des Kapitäns: „Der Flughafen Frankfurt hat uns informiert, dass wegen Personalmangels derzeit keine Busse zur Verfügung stehen.“
Um 11.15 Uhr kommt schließlich doch ein Bus, knapp zehn Minuten später betritt Santen das Flughafengebäude, 1,5 Stunden später als geplant. Kurz nach zwölf Uhr ist er dann endlich in der Innenstadt – „nach fast sechs Stunden Reisezeit“.
Die sozialen Netzwerke sind voll von ähnlichen Schilderungen. Immer mehr Unternehmer und Manager berichten vom Chaos. Und das dürfte erste der Anfang sein. Am Donnerstag gab die Lufthansa bekannt, über die bereits bekannten 900 gestrichenen Flüge in diesem Sommer weitere 2200 Flüge in Frankfurt und München ausfallen zulassen. Auch hier der Grund: Personalmangel.
Und so wird es in den kommenden Wochen weitere Geschichten geben wie jene von Christophe Mostert. Der auf Luftfahrt spezialisierter Berater hat einen Rückflug aus Spanien nicht vergessen.
Mit an Bord waren rund zehn Familien mit kleinen Kindern. Wie üblich wurden bei Abflug von Lufthansa die Kinderwagen vorher eingesammelt – Rückgabe in Frankfurt am Sperrgut-Schalter. Doch als die Eltern dort eintrafen, herrschte gähnende Leere: Kein Mitarbeiter und auch keine Kinderwagen waren zu sehen.
„Die Stimmung wurde immer aggressiver“, erzählt Mostert: „Wenn ich auf einen Golfsack warte, ist das nicht so schlimm. Wenn ich aber eineinhalb Stunden mit einem weinenden und übermüdeten Kind auf dem Arm warten muss, geht das gar nicht.“
Fahren oder Planen mit der Deutschen Bahn ginge gegenwärtig nicht mehr, klagte Julia Jäkel, Managerin, Verlegerin und ehemalige Gruner-&-Jahr-Chefin, diese Woche auf LinkedIn: „Und Fliegen, wenn es denn sein muss, auch nicht.“ Soeben habe der Kapitän der Swiss-Maschine in Zürich durchgesagt, dass die deutsche Flugsicherheit nicht genug Personal habe, um die Flüge abzufertigen. „Daher eine Stunde auf dem Rollfeld warten, kein Slot erhältlich nach Hamburg, obwohl hier alles pünktlich war.“
Besonders schlimm traf es Fluggäste am späten Mittwochnachmittag am Flughafen Düsseldorf. Bis zu zwei Stunden mussten sie an der Sicherheitskontrolle warten. Darauf angesprochene Mitarbeiter antworteten lakonisch: „Das war noch gar nichts. In den nächsten Tagen erwarten wir noch viel mehr Passagiere. Wir werden aber immer weniger. Fliegen Sie am besten gar nicht mehr. Fahren Sie an die Nordsee.“
Nach der Sicherheitskontrolle ging das Chaos erst richtig los: Abflüge wurden immer weiter nach hinten verschoben oder ganz abgesagt, etwa der nach Berlin. Der Grund: Niemand konnte die Maschine abfertigen. Auf einem anderen Flug saßen die Passagiere schon im Flieger, als der Flug gestrichen wurde. Sie mussten wieder aussteigen, weil kein Personal verfügbar war, um die Koffer einzuladen.
Wer nach Berlin wollte, erfuhr schließlich, dass man sich doch an das telefonische Service-Center wenden solle. Der Eurowings-Schalter im Flughafen sei leider nicht mehr besetzt. Dabei war es gerade einmal 20.20 Uhr. Umbuchen war aber sowieso kaum möglich, in Düsseldorf lief die Industriemesse „Tube“. Viele Flüge und auch die Hotels waren am Abend ausgebucht.
Kaum besser erging es am Montag Passagieren des Fluges AZ 427 von Hamburg nach Mailand. Die meisten waren mit viel Puffer angereist, doch der schmolz angesichts der endlos langen Schlangen vor den Sicherheitskontrollen dahin. Einige hätten sich dreist vorgedrängelt, die Stimmung sei aggressiv gewesen, berichten Betroffene.
Auch die Airline selbst sorgte für Chaos. ITA Airways schreibt für Hamburg einen manuellen Check-in vor, selbst wenn der Fluggast kein Gepäck aufgeben will. An dem Tag habe es aber nur einen Schalter gegeben, der erst zwei Stunden vor Abflug geöffnet worden sei, wird berichtet. Erst später hätten die Passagiere den Schalter für die Vielflieger und Topkunden nutzen können. Am Mittwoch war in Hamburg zu allem Überfluss auch noch eine Piste beschädigt.
Rückkehrer aus China kommen nicht weg
Mittlerweile breitet sich der Flugirrsinn weltweit aus. Besonders dramatisch sind die Folgen für die ständig vom Lockdown bedrohten Heimkehrer aus China. Aus Peking gibt es nur noch zwei Direktflüge pro Woche nach Deutschland, einer mit Lufthansa und einer mit Air China. Fällt ein Flug aus, bieten sich für sie kaum Alternativen.
Einer, der das erlebte, ist Bernd Poth. Der Audi-Manager wollte nach drei Jahren in China mit seiner Frau und den drei Kindern diesen Samstag ausreisen. Bereits im Januar hatten sie den Heimflug gebucht. Doch dieser wurde nun, weniger als drei Tage vor Abflug, storniert. Als Alternative habe Lufthansa der fünfköpfigen Familie einen Flug Mitte Juli angeboten.
Doch ihre Wohnung haben sie bereits gekündigt, der Hausstand ist per See- und Luftfracht auf dem Weg nach Europa. „Wir hätten ins Hotel ziehen müssen“, sagt Poth. Inklusive der ständigen Sorge vor einem neuen Lockdown oder einer drohenden Quarantäne. Inzwischen hat Poth, nach mehreren Stunden am Telefon, für sich und seine Familie, auf eigene Faust einen Rückflug mit einer chinesischen Airline organisiert.
Mit den verbliebenen zehn großen Koffern à 25 Kilo und ein bis zwei Handgepäckstücken pro Person geht es nun am Sonntag von Peking über Hangzhou nach Frankfurt. „Die Leute wollen hier einfach nur noch raus“, sagt Poth.
Das will auch Sim Sim Wissgott. Die Österreicherin plant ihre Rückreise in der kommenden Woche nach sechs Jahren in China mit der Lufthansa über Frankfurt zurück nach Wien. Sie fürchtet, dass auch ihr Flug nicht stattfinden wird, denn auf der Lufthansa-Webseite ist er nicht mehr verfügbar. Die Unsicherheit sei Stress pur. „Ich will es nicht dramatisieren, aber Flüge aus China sind im Moment praktisch Evakuierungsflüge“, sagt sie.
Mittlerweile hat sie bereits ihren dritten Flug nach Hause gebucht: Der erste mit Air China wurde gestrichen, der zweite mit Lufthansa könnte gestrichen werden, der dritte ist ein Ersatzflug mit Air France-KLM. Die Kosten für die One-Way-Tickets lägen jeweils bei 1600 bis 2300 Euro – auch das könne sich nicht jeder leisten. Die Flugzeit für den Ersatzflug beträgt 23 Stunden. Aber das sei ihr inzwischen auch egal.
Dem Flugpersonal, das den ganzen Frust der Passagiere abbekommt, bleibt häufig nur Galgenhumor. So begrüßte eine Pilotin von Lufthansa am Donnerstagmittag die Fluggäste auf einem verspäteten Flug nach München so: „Welcome to the chaos, that’s all I can say these days.“