Wednesday, June 22, 2022

Die Ukraine macht Russland die Herrschaft vor ihren Küsten streitig

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Die Ukraine macht Russland die Herrschaft vor ihren Küsten streitig Andreas Rüesch - Vor 9 Std. Das Schwergewicht des russisch-ukrainischen Krieges befindet sich seit bald drei Monaten in der Donbass-Region. Doch andere Kampfzonen bleiben wichtig, besonders das Meeresgebiet südlich der ukrainischen Hafenstadt Odessa. Russland verfolgt dort einerseits das Ziel, den Gegner wirtschaftlich abzuschnüren; die Handelsroute über die Häfen im Raum Odessa, eine eigentliche Lebensader der Ukraine, ist seit Kriegsbeginn blockiert. Anderseits will Moskau den militärischen Druck auf die Südküste aufrechterhalten. Die russisch besetzte Schlangeninsel in einer ;Satellitenaufnahme vom 8. Mai nach einem ukrainischen Luftangriff. Nun sind die Russen dort erneut unter Beschuss geraten. Seit der spektakulären Versenkung des Flaggschiffs der russischen Schwarzmeerflotte, der «Moskwa», durch ukrainische Antischiffraketen Mitte April hat die Bedrohung vom Meer her etwas abgenommen, aber sie ist nicht gebannt. Russische Kriegsschiffe halten nun meist eine Sicherheitsdistanz von mindestens 100 Kilometern zur Küste ein. Die Flotte bleibt jedoch sehr aktiv, was es unrealistisch erscheinen lässt, die Handelsrouten wieder zu öffnen und damit den Export der blockierten ukrainischen Weizenvorräte zu ermöglichen. Winzig, aber von strategischer Bedeutung Ein Symbol des russischen Herrschaftsanspruchs über die Gewässer im nordwestlichen Schwarzen Meer ist die völkerrechtlich zur Ukraine gehörende Schlangeninsel. Trotz ihrer geringen Grösse von nur etwa 400 Metern im Quadrat hat das 36 Kilometer vor der Donau-Mündung gelegene Eiland strategische Bedeutung. Wer es beherrscht, kann daraus Ansprüche auf eine exklusive Wirtschaftszone in weitem Umkreis ableiten. Zugleich lässt sich von dort aus der Schiffsverkehr in Richtung Ukraine kontrollieren. Russland besetzte die Insel gleich am ersten Tag des Krieges und begann sie militärisch auszubauen. Die Ukraine hat zunächst versucht, diese Niederlage in eine Heldenerzählung umzudeuten. Der trotzige Funkspruch eines auf der Insel stationierten Offiziers, der das angreifende russische Kriegsschiff verfluchte («idi nachui»), wurde zum Symbol der ukrainischen Unbeugsamkeit. Doch an der russischen Kontrolle über die Schlangeninsel hat dies nichts geändert. Umso bemerkenswerter ist deshalb, dass die Ukraine am Montag grössere Angriffe auf die Insel unternommen hat. Deren Einzelheiten und Auswirkungen blieben auch am Dienstag noch im Dunkeln, aber inzwischen hat auch Russland die Operation bestätigt. In Moskau hiess es, die Ukrainer hätten Mehrfachraketenwerfer, amerikanische Haubitzen des Typs M777, ballistische Raketen sowie 15 Drohnen eingesetzt. Auch wenn nur die Hälfte davon zutrifft, handelt es sich um eine Grossaktion, die belegt, welche Bedeutung man in Kiew diesem Flecken Land weiterhin beimisst. Das zuständige ukrainische Regionalkommando Süd behauptete, die Russen hätten bedeutende Verluste erlitten. Auf der Insel seien ein Panzir-Flugabwehrsystem, ein Radargerät und Militärfahrzeuge zerstört worden. Eine Bestätigung dafür liegt nicht vor. Immerhin lassen sich auf Satellitenbildern Brandspuren an drei Stellen auf der Insel erkennen, wohl die Folge der Militäraktion. Die Schlangeninsel liegt in Reichweite der ukrainischen Artillerie. Allerdings behauptet die russische Seite, sie habe mit Luftangriffen am südlichsten Gebietszipfel der Ukraine mehrere amerikanische Geschütze zerstört. Schwierig zu verteidigen Trotz der vorläufig unübersichtlichen Lage illustriert das Geschehen die grundsätzliche Verwundbarkeit der russischen Besetzer. Bereits Anfang Mai hatten die Ukrainer mit Bombern und Kampfdrohnen einen Schlag gegen feindliche Stellungen auf der Insel ausgeführt. Der kleine russische Stützpunkt wurde dabei fast völlig zerstört, einschliesslich eines Flugabwehrsystems und eines am Hafen ankernden Kriegsschiffes. Eine Rückeroberung gelang den Ukrainern jedoch nicht. Die Russen zogen aus dem Fall die Lehre, dass die Schlangeninsel nur mit einer robusten Flugabwehr längerfristig zu halten ist. Bis Mitte Juni verlegten sie mehrere entsprechende Waffensysteme von kurzer Reichweite auf das Eiland. Militärexperten spekulieren darüber, dass Russland mit der Stationierung eines Langstrecken-Flugabwehrsystems wie des S-400 noch viel ambitiösere Ziele erreichen könnte, nämlich nicht nur den Schutz der Insel selber, sondern eine Luftherrschaft bis nach Odessa oder an die Nato-Südflanke. Die Bedrohung durch ukrainische Artillerieangriffe setzt ein Fragezeichen hinter solche Pläne. Hinzu kommen die Herausforderungen bei der Versorgung des Stützpunktes, wie ein Vorfall von Ende vergangener Woche zeigte. Dabei gelang es den Ukrainern, den russischen Bergungsschlepper «Wasili Bech», ein für den Nachschub eingesetztes Schiff, zu versenken. Er soll Personal und Waffen für die Schlangeninsel-Basis an Bord gehabt haben. Aufhorchen lässt der Angriff auch deshalb, weil die Ukraine dabei offenbar erstmals erfolgreich eine ihrer neuen Antischiffraketen des Typs Harpoon eingesetzt hat. Es handelt sich um ein amerikanisches Fabrikat; erhalten hat Kiew diese Waffen jedoch von Grossbritannien und Dänemark. Vom ungebrochenen Anspruch der Ukraine auf die Gewässer vor Odessa zeugt noch ein weiterer Angriff. Den Ukrainern gelang es am Montag, mindestens eine russische Offshore-Gasförderplattform in Brand zu schiessen. Dies geht aus russischen Meldungen und Satellitenbildern hervor. Auch dies scheint am ehesten das Resultat eines Harpoon-Einsatzes. Die rund 120 Kilometer südlich von Odessa gelegene Plattform hat eine bewegte Geschichte hinter sich. 2014 waren sie und ein weiterer Bohrturm mit der Annexion der Krim in russische Hände gefallen. Moskau verlegte die Bohranlagen darauf tief in die ausschliessliche Wirtschaftszone der Ukraine hinein, um ökonomische und militärstrategische Ansprüche zu untermauern. Dem setzen die Ukrainer nun ihre neuen Raketen entgegen – zu einem Preis allerdings, den sie auch im Osten des Landes bezahlen. Um die russischen Invasoren zu bekämpfen, müssen sie Infrastruktur beschiessen, die eigentlich ihnen gehört und die für eine künftige Prosperität des Landes wichtig wäre.