Tuesday, June 21, 2022
Der Hochrisiko-Kurs der EZB ist nicht mehr vermittelbar
WELT
Der Hochrisiko-Kurs der EZB ist nicht mehr vermittelbar
Thomas Straubhaar - Gestern um 16:00
Die Europäische Zentralbank (EZB) beendet ihre milliardenschweren Netto-Anleihenkäufe zum 1. Juli und macht damit den Weg frei für die erste Zinserhöhung im Euroraum seit elf Jahren. Sehen Sie hier die Pressekonferenz mit EZB-Präsidentin Christine Lagarde im englischen Original.
Es war die Woche der Zinswende. Erst machte letzten Mittwoch die amerikanische Notenbank den größten Zinsschritt seit über einem Vierteljahrhundert. Dann hoben am Donnerstag die Schweizerische Nationalbank erstmals seit fünfzehn Jahren und Großbritannien die Leitzinsen an. Und wie reagiert die Europäische Zentralbank (EZB) darauf, dass andernorts der geldpolitische Kurs radikal geändert wird?
Sie gibt weiter Gas, statt endlich auf die Bremse zu treten. So hat sie auf einer Krisensitzung am Mittwoch beschlossen, künftig wieder mehr Staatsanleihen von hochverschuldeten Mitgliedstaaten der Währungsunion zu kaufen. Damit will sie verhindern, dass die Refinanzierungskosten einiger Euroländer wieder derart ansteigen, dass die nächste Staatsschuldenkrise droht.
Die EZB hält zudem stramm – manche würden sagen stur – am Nullzins fest, obwohl im Euroraum die Verbraucherpreise im Mai 2022 mehr als acht Prozent höher liegen als ein Jahr zuvor. Erst im Juli will die EZB an der Zinsschraube drehen – das dürfte wohl zu spät und zu zögerlich sein. Da wird die Teuerung bereits viel zu lange Kaufkraft von Löhnen, Ersparnissen und Renten aufgefressen haben.
Warum nur tut sich die EZB so schwer, den ihr satzungsgemäß vorgeschriebenen Beitrag im Kampf gegen die Teuerung zu leisten? „Hebeleffekte“ liefern die Erklärung. Denn die Mathematik der Anlagerenditen ist unerbittlich. Ein Auftauchen aus der Unterwelt der Negativ- und Nullzinsen geht mit extremen Risiken einher. Ein Zinsanstieg um einen Prozentpunkt von zwei auf drei Prozent bedeutet eben etwas völlig anderes, als von null auf ein Prozent.
Im ersten Fall ist ein absoluter Anstieg um einen Prozentpunkt ein relativer Anstieg um die Hälfte, im zweiten Fall jedoch um ein Vielfaches (1,0 ist das hundertfache von 0,01 und das tausendfache von 0,001). Der relative Zinsanstieg erzwingt eine entsprechende relative Korrektur bei den Buchwerten von Staatsanleihen. Warum das so ist, lässt sich mit einem einfachen Beispiel veranschaulichen.
Dabei geht es um einen Investor, der gerne pro Jahr einen Euro Zinseinkünfte erzielen möchte. Besitzt er eine alte 1000-Euro-Staatsanleihe mit einem festen Zinssatz von 0,1 Prozent, erreicht er genau sein Ziel. Denn dafür erhält er jährlich einen Euro Zinseinkünfte.
Sollten nun jedoch neue Euro-Staatsanleihen mit einem festen Zinssatz von einem Prozent angeboten werden, könnte der Investor seine angestrebten Zinseinkünfte viel günstiger erreichen. Bereits der Einsatz von hundert Euro würde zu Zinseinkünften in Höhe eines Euro Zinsen führen.
Was die alte Staatsanleihe mit einem Wert von 1000 Euro und einem Zinssatz von 0,1 Prozent an Zinseinkünften abwirft, schafft die neue Staatsanleihe mit einem Zinssatz von einem Prozent bereits bei einem Wert von hundert Euro.
Deshalb hat die alte 1000-Euro-Staatsanleihe im Vergleich zu den neuen Staatsanleihen nur noch einen Börsenwert von einem Zehntel. Niemand würde, um Zinseinkünfte von einem Euro zu erzielen, tausend Euro bezahlen, wenn er einen Euro Zinseinkünfte bereits für hundert Euro haben kann!
Die brutalen Hebelsätze des Beispiels gelten gottlob nur bei unendlicher Laufzeit der Zinspapiere. In der Praxis ist es bei Weitem nicht so dramatisch. Staatsanleihen werden in der Regel spätestens nach zehn Jahren und in Ausnahmefällen nach dreißig Jahren zum vollen Nominalwert zurückbezahlt. Aber als Faustregel gilt halt doch, was das Beispiel zeigt: wenn Zinsen stark steigen, brechen die Buchwerte von Staatsanleihen ein. Und zwar umso dramatischer, je tiefer die Zinsen vor dem Anstieg liegen.
Erhöht die EZB ihren Leitzins von heute Null Prozent um ein Viertel oder gar halbes Prozent – was in relativen Veränderungen einem Riesensprung entspricht – provoziert sie einen Crash bei Kursen für Staatsanleihen der Euroländer.
Als Folge davon entsteht ein immenser Wertberichtigungsbedarf – ganz besonders für Banken und Versicherungen, die Staatsanleihen als sichere Zinspapiere halten. Damit jedoch droht der Kollaps jener Finanzinstitute, die viele Staatsanleihen hochverschuldeter Euroländer besitzen – oft gerade auch als vermeintlich sichere Anlagen.
Wie die EZB heil aus dem Dilemma der „Hebeleffekte“ kommt und die Zinsen im Kampf gegen die Inflation erhöhen kann, ohne damit den Zusammenbruch von Finanzinstituten und eine nächste Staatsschuldenkrise auszulösen, ist immens unsicher. Noch nie in ihrer Geschichte stand die EZB vor der Herausforderung, aus einer Unterwelt der Nullzinsen aufzusteigen und wieder zu positiven Zinsen zurückzukehren. Es fehlt ihr somit jede historische Erfahrung, was ein solcher Auftauchvorgang in der Praxis für Schocks auslöst.
Genau aus dem Grund wird die EZB auch in den kommenden Monaten die allgemeine Zinswende nur zögerlich und schwach mitmachen. Sie will nicht durch eine Zinserhöhung die Zinskosten verteuern und eine Rezession oder als Folge der Hebeleffekte sogar noch Schlimmeres riskieren.
Vielmehr wird sie – ein weiteres Mal - mit tiefen Zinsen und viel billigem Geld auf Zeit spielen und hoffen, dass mehr Wachstum für mehr Angebot und damit weniger Inflation sorgt. Das aber ist und bleibt angesichts vieler struktureller Defizite innerhalb des Euroraums eine Hochrisiko-Strategie.