Monday, November 28, 2022

Proteste in China: "Endlich sehen wir Licht"

ZEIT ONLINE Proteste in China: "Endlich sehen wir Licht" Artikel von Xifan Yang • Vor 4 Std. Sie haben Angst, staunen aber auch über ihren eigenen Mut: Unterwegs mit jungen Demonstrierenden in Peking, die an den größten Protesten seit 1989 teilnehmen. Protestierende am Abend des 27. November in Peking Gegen 22 Uhr drängen sich an diesem Sonntagabend mehr als tausend Menschen an einer mit Uniformierten und Polizeiwägen umstellten Fußgängerbrücke in Peking, von Minute zu Minute werden es mehr. "Es hat sich so viel in uns allen angestaut. Wir wollen nicht mehr in Dunkelheit leben", sagt Wu Guang, 36, ein Filmregisseur mit dunklem Bart und in Outdoorjacke. Alle Namen in diesem Text sind geändert: Proteste dieser Art hat es in China seit 1989 nicht gegeben. Wie es in den kommenden Tagen weitergeht, wie gefährlich es für Demonstranten wie Wu Guang noch wird, ob die chinesischen Sicherheitskräfte und die Regierung von Xi Jinping die Beherrschung behalten werden, weiß niemand. Und doch fällt von vielen jungen Pekingerinnen und Pekingern, die am späten Sonntagabend ihren Protestzug am Liangma-Fluss beginnen, die Angst ab. "Wir Chinesen sind auch Menschen, Menschen wie alle", wird später ein junger Mann mit Baseballcap unter dem Applaus der Menge skandieren. Wu Gunag sagt, neben den Toten von Ürümqi, wo zehn Menschen auch wegen der strengen Lockdown-Regeln in ihrem Hochhaus verbrannten, gebe es noch einen zweiten Grund für ihn, endlich auf die Straße zu gehen: der Anblick feiernder Fußballfans in Katar – ohne Maske. Andere, die an diesem Abend protestieren, sind Angestellte oder junge Uni-Absolventen. Viele der Wortführer unter den Demonstrierenden in der Hauptstadt sind Frauen, ähnlich wie schon Samstagnacht zuvor in Shanghai und auf dem Campus der Pekinger Eliteuniversität Tsinghua, wo sich am Sonntagnachmittag eine Studentin als Erste protestierend auf die Stufen eines Universitätsgebäudes stellte: schweigend, mit einem weißen DIN-A4-Blatt. Ein Zufall sei das nicht, sagen die Leute im Netz. Wie in anderen asiatischen Gesellschaften sind junge Chinesinnen oftmals progressiver als ihre männlichen Gleichaltrigen. Und sie leiden stärker unter konservativen Autokraten wie Xi Jinping, der Ende Oktober das Politbüro der Kommunistischen Partei (KP) erstmals seit 25 Jahren nur mit Männern besetzt hat. Das weiße Blatt Papier ist binnen weniger Tage zum Symbol der Anti-Null-Covid-Proteste Chinas geworden. Andere Studierende bringen landesweit Poster mit dem Spruch "Aus rechtlichen Gründen können Sie diesen Inhalt nicht aufrufen" an. Ein Protestierender in Shanghai hält Samstagmittag das Schild "Ihr wisst schon, wogegen ich protestieren will" hoch. Ironische Kritik am allgegenwärtigen Zensurapparat der kommunistischen Führung, der es zuletzt immer perfekter vermochte, abweichende Stimmen auszulöschen. Nur: Wie lange gelingt der kommunistischen Führung das noch? An 87 chinesischen Universität wurden Stand Sonntagabend Proteste gezählt. In den Großmetropolen Shanghai, Peking, Guangzhou, Chengdu und Wuhan kam es darüber hinaus laut Berichten zu Straßendemonstrationen. Für Montag sind bereits weitere angekündigt. Zahlenmäßig machen die jetzt Demonstrierenden nur einen sehr geringen Anteil an den insgesamt 1,4 Milliarden Einwohnern Chinas aus. Aber dass in dem Land überhaupt auf einmal Menschen mit politischen Forderungen auf die Straße gehen und sich Bilder rasend schnell im Land verbreiten, deutet darauf hin, dass die dahinterstehende Unzufriedenheit weiter verbreitet ist. Der Protest in Peking beginnt am Sonntagabend gegen 21.30 Uhr mit einer Kerzenandacht am Fußgängerufer des Liangma-Flusses, nördlich des Botschaftsviertels. Auf der nahegelegenen Brücke reiht sich ein Polizeiauto an das nächste, binnen Minuten sperren Polizisten den Uferbereich ab. "In Pandemiezeiten sind Treffen nicht erlaubt, geht nach Hause", sagen die Uniformierten. Und doch gelingt es einer Gruppe von 100 bis 200 Menschen am Ufer, der Opfer des Wohnhausbrands in Ürümqi zu gedenken. In der Hauptstadt der Uiguren-Provinz Xinjiang kamen in der Nacht auf vergangenen Freitag zehn Menschen ums Leben, weil Feuerwehrautos wegen Null-Covid-Sperren nicht nah genug an den Einsatzort heranfahren konnten. Die Toten von Ürümqi, die Null-Covid-Müdigkeit nach drei Jahren, der Frust über die Zensur und die internationale Isolation Chinas, über die schlechte Wirtschaftslage und schwindende Jobchancen, all das bricht sich auf einmal Bahn. Nachdem die Polizei die blaue Uferbeleuchtung ausgeschaltet hat, sitzt die kleine Gruppe hinter der Absperrung im Dunkeln. Für viele Anwesende ist es der erste politische Protest ihres Lebens, die Angst ist deutlich zu spüren, aber auch Staunen und Ungläubigkeit über den eigenen Mut. Als eine zweite Gruppe auf der südlichen Uferseite mit ihren Smartphone-Taschenlampen zu den Eingeschlossenen hinüberleuchtet, hellt sich die Stimmung auf. "In diesem Moment haben wir uns sicher und geeint gefühlt", sagt ein Mädchen später. Die Polizisten versuchen, die Menschen vom Ufer wegzudrängen, manche werden handgreiflich den Frauen gegenüber, die sich mit deutlichen Worten zur Wehr setzen. Die Menge setzt sich in Bewegung, einige Frauen verteilen nun weiße DIN-A4-Blätter im Gehen, die Empfänger halten sie gemeinsam hoch und dann: singen sie die Internationale. Auf der Brücke stoßen sie auf Hunderte andere junge Menschen, die bislang die Szene am Fluss still beobachtet haben. Sie applaudieren den Singenden und setzen sich ebenfalls in Bewegung. In diesem Moment beginnt die Demonstration. "Wir wollen keine PCR-Tests, wir wollen Freiheit!", rufen sie. Und wenige Augenblicke später: "Wir wollen keine Lügen, wir wollen Würde! Wir wollen keine Kulturrevolution, wir wollen Reformen!" Die Stimmung ist angespannt, aber auch heiter. "Wir wollen verreisen!", ruft jemand. Eine anderer: "Wir wollen Karaoke singen!" Eine Frau: "Wir wollen Avatar im Kino sehen!" Noch einer: "Und endlich wieder clubben!" Gelächter. Der Filmregisseur Wu Gang sagt, er habe Samstagnacht viele Male weinen müssen, als er die Videos aus Shanghai sah. Dort begannen die Proteste vom Wochenende in der Straße, die nach der Uiguren-Hauptstadt Ürümqi benannt ist: der Wulumuqi-Straße, die ausgerechnet eine beliebte Ausgehmeile für Shanghaier Hipster ist. "Endlich sehen wir Licht", sagt Wu Gang mit bewegter Stimme. Seit er Anfang 20 ist, beschäftige er sich mit Politik, die Bilder aus der Shanghaier Wulumuqi-Straße sah erst zuerst auf dem Youtube-Kanal von Wang Dan, einem der ehemaligen Studierendenführer der Tiananmen-Bewegung von 1989, der im amerikanischen Exil lebt. "Ich träume seit Jahren von diesem Moment heute, in dem wir Chinesen unsere Stimme erheben", sagt Wu Gang. Ob dieser Funke in den kommenden Tagen die Blase der Jungen, Gebildeten und Weltgewandten verlässt und auf andere Bevölkerungsschichten überspringt, ist so früh noch nicht zu sagen. Auch ist unklar, was die Ziele der entstehenden Protestbewegung sind, wie weit sie noch gehen will – oder ob sie nicht binnen Tagen in sich zusammenfällt, wenn die Staatsmacht ihre volle Härte zeigt. Worauf sich Stand Montagmittag Pekinger Ortszeit bereits viele Studierende und andere Protestierende einigen können, sind drei Forderungen: eine offizielle Entschuldigung der Führung an die Opfer von Ürümqi. Ein Ende der ständigen Covid-Testpflicht. Und die Freilassung der Festgenommenen in Shanghai. Die Zeichen, dass der Staat auf Letzteres eingeht, stehen schlecht: In der Nacht auf Montag nahm die Polizei erneut Protestierende in Shanghai mit. Ein Kameramann der britischen BBC wurde einem Statement des Shanghai Foreign Correspondent Clubs (FCC) zufolge von Polizisten geschlagen, getreten und in Handschellen auf der Wulumuqi-Straße abgeführt. Nach mehreren Stunden Arrest wurde er am späten Sonntagabend entlassen. Der FCC zeigte sich "sehr beunruhigt". Man sei "frustriert über die zunehmenden Hürden für ausländische Journalisten in China und die Aggression, die die Polizei ihnen gegenüber zeigt." Außerdem hat die Polizei in der Wulumqi-Straße mittlerweile Bordsteinblockaden errichtet, und wenn man im chinesischen Internet nach den großen Metropolen der Proteste sucht, findet man vor allem Porno- und Glücksspielwerbung – ein Versuch des Staates, die Proteste online zu überdecken. Um Mitternacht gehen in Peking die meisten auf Druck der Polizisten nach Hause. Neben den Uniformierten waren unzählige Beamten in Zivil unter den Demonstrierenden unterwegs. Dass in den kommenden Tagen mehr Verhaftungen folgen werden, ist sehr wahrscheinlich. Wu Gang und viele andere in Peking sehen den ersten Straßenprotest ihres Lebens trotzdem als Erfolg. "Das wird nicht das letzte Mal gewesen sein", sagt er.