Monday, November 28, 2022
Soziale Not in Großbritannien: Heizen oder Essen – wenn das Geld nicht für beides reicht
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Soziale Not in Großbritannien: Heizen oder Essen – wenn das Geld nicht für beides reicht
Artikel von Philip Plickert • Gestern um 09:59
Vor der „Everyday Church“ hat sich eine kleine Schlange von Menschen gebildet. Eine Mutter steht da mit Kinderwagen, eine Gruppe Frauen in dicken Winterjacken, mehrere Männer in Trainingshosen.
Ian Jacobs und seine Kollegin von der Foodbank in Kingston upon Thames, südwestlich von London
Ein Mittdreißiger mit Tätowierungen lacht laut. Sie warten darauf, dass die Foodbank (Tafel) im Zentrum von Kingston nahe London endlich öffnet.
Auch Karina, 19 Jahre, wartet mit einem Freund. Sie sind vor fünf Wochen als Gastschüler aus der Ukraine gekommen. „Alles ist so teuer hier“, sagt sie. Daher stehen sie hier und warten auf kostenloses Essen an der Tafel.
Die Tafel in der „Everyday Church“ in Kingston öffnet.
Hinter ihr beißt ein Obdachloser in Kekse. Andere bestätigen, dass sie sehr hungrig sind und seit dem Vortag nichts gegessen haben.
Sobald die Tür um 11 Uhr morgens öffnet, strömen sie alle in die alte Steinkapelle. Dort gibt es erst mal einen warmen Kaffee und später eine große Tüte kostenlose Lebensmittel.
„Die Zahl unserer Kunden ist dieses Jahr um 157 Prozent gestiegen“, erzählt Ian Jacobs, ein groß gewachsener hagerer Mann, der die Foodbank seit dem vergangenen Jahr leitet. „Wir sehen einen steilen Anstieg der Bedürftigen“, sagt er, während er Brote und Gebäck in Klarsichtbeutel packt.
Ordentlich verstaute Lebensmittel in einer Foodbank in Hackney, das auf bedürftige Abholer wartet.
Teure Lebensmittel
Um 16 Prozent sind Nahrungsmittel in Großbritannien dieses Jahr teurer geworden – noch ein bisschen mehr als in den meisten anderen europäischen Ländern. Die ganze Insel stöhnt zudem über die stark gestiegenen Gas- und Stromrechnungen, die sich auf 2500 Pfund je durchschnittlichen Haushalt praktisch verdoppelt haben.
Für viele reicht das Geld hinten und vorne nicht mehr. Mehr Menschen als früher wenden sich daher an die Tafeln. Von einem „Tsunami der Not“ spricht der Trussell Trust, die Dachorganisation der 1300 Foodbank-Zentren auf der Insel.
Kingston an der Themse, eine Kleinstadt südwestlich von London, ist eigentlich kein armer Ort. Hier leben auch viele wohlhabende Bürger, die in Banken, Anwaltskanzleien oder Ministerien der Hauptstadt arbeiten; die Häuser in manchen Straßen kosten weit über eine Million Pfund.
Im Zentrum, neben der gotischen Allerheiligenkirche, dem Bentall-Kaufhaus und der Everyday Church, wird gerade der Weihnachtsmarkt mit falschem Schnee auf den Hütten aufgebaut, wo man Punsch, Plätzchen, Schmuckstücke und allerlei Geschenke kaufen kann. Die Stimmung ist fröhlich.
„Es gibt aber auch viel versteckte Armut in Kingston“, sagt Tanya van Dalen. Ihr Wohltätigkeitsverein Growbaby sammelt Secondhandkleidung für Kleinkinder, Spielsachen sowie Kinderwagen für Familien, die nicht genug Geld haben. „Alle Lebenshaltungskosten sind exponentiell gestiegen, vor allem die Sachen für die ganz unten auf der Einkommensleiter“, sagt die 47-Jährige.
Im Fenster des Vereinslokals von Growbaby liegen Teddybären, daneben Kisten mit Milchpulver. Jeden Monat kommen Hunderte Eltern zu ihr, mehr als hundert Müttern konnte sie mit Babyausrüstung helfen. In ganz Großbritannien gibt es mittlerweile fast 50 Growbaby-Hilfsvereine.
Großer Zustrom bei den Tafeln
Die Tafel von Kingston versorgt jede Woche etwa 300 bis 500 Menschen. Ian Jacobs hält eine Liste hoch mit der üblichen Ration: Getreideflocken, Milch und Saft, zwei Suppen, zwei Dosen Bohnen, Kartoffelpüree, Pasta, Reis und Saucen, Fleisch und Fisch in Dosen, eine Packung Kekse, Marmelade, Klopapier und Hygieneprodukte gibt es für die „Kunden“.
Alle Nahrungsmittel stammen von privaten Spendern, einige auch von lokalen Supermärkten. Die Foodbank lässt in der Regel nur Leute ein, deren Bedürftigkeit vom Arbeitsamt, der Schule oder einem Arzt geprüft wurde und die eine entsprechende Bescheinigung vorzeigen können.
Zwischen April und September haben sie schon 1,3 Millionen Pakete mit Nahrungsmitteln an Bedürftige ausgegeben, mehr als je zuvor. Auch in Deutschland gehen immer mehr Menschen zu Tafeln, um dort kostenlose Essenspakete zu erhalten. Vor Kurzem meldete der deutsche Dachverband, dass sie zwei Millionen Mal Menschen mit Essenspaketen geholfen haben – ein Anstieg um 50 Prozent in diesem Jahr.
Viele der deutschen Tafeln sind völlig überlastet. Und alle rechnen mit einem weiteren Anstieg, wenn im Herbst und Winter mehr Menschen als zuvor den Energiepreisanstieg noch mehr im Portemonnaie spüren.
Die Regierung hat die Kosten zwar auf rund 2500 Pfund gedeckelt und damit durchschnittlich um 1000 Pfund in diesem Winter subventioniert. Doch die Kosten sind immer noch gut doppelt so hoch wie vor einem Jahr. Finanzminister Jeremy Hunt hat weitere Zuschüsse von bis zu 900 Pfund für sozial Schwache angekündigt, aber viele kommen mit dem Geld nicht mehr über die Runden.
Für die Sozialleistungen hat der Schatzkanzler einen Anstieg in Höhe der Inflationsrate von 10,1 Prozent verkündet. Das kostet den Staat elf Milliarden Pfund extra – allerdings wird die Erhöhung erst im kommenden April wirksam.
„Heating or Eating“
Im Herbst und Winter stehen jetzt viele vor der Wahl: Heizen oder Essen? „Heating or Eating“ reimt sich im Englischen so schön, ist aber bitterer Ernst für Hunderttausende. Das ärmste Zehntel der Bevölkerung muss 17,8 Prozent seines Einkommens für die Energierechnung ausgeben, mehr als in anderen Ländern Europas.
Bei einer Umfrage der Rowntree Foundation, eines sozialpolitischen Thinktanks, sagten ein Viertel der Befragten, dass sie nur noch kalt essen, weil sie Kochkosten sparen müssen. Iain Porter von der Stiftung empört sich, dass viel zu viele Briten sich kein gesundes Essen mehr leisten können.
Mehr als zwei Millionen Haushalte sind mit ihren Energierechnungen schon im Rückstand. Manchen Kunden schalten die Versorger Gas und Strom ab. Ein fürchterliches Ereignis in Buckinghamshire machte vor zwei Wochen Schlagzeilen: Eine junge schwarze Mutter, die höhere Miet- und Energieschulden hatte, ist mit ihrer zweijährigen Tochter vor einen Zug gesprungen.
Solche Extremfälle sind noch selten. Aber Mitarbeiter von Hilfe-Hotlines sagen, dass sie immer wieder verzweifelte Anrufer mit Suzidgedanken erleben.
Viele in der Unterschicht müssen eisern sparen. „Mein Vater heizt nie, und er isst nur Bohnen mit Schweinefleisch, das ist das Billigste“, erzählt Ines, eine Reinigungsfrau aus Kingston.
Aber sie sagt auch: „Es gibt doch eine Menge Hilfen der Regierung, beispielsweise das Warme-Zuhause-Programm.“ Sie vermutet, dass gerade viele Ältere nicht wüssten, wie sie den Zuschuss von 150 Pfund in diesem Winter beantragen können.
Auch die Mittelschicht ist gefährdet
In der Everyday Church in Kingston ist der große Kirchenraum ziemlich gut geheizt. Um kleine Tische sitzen nun Grüppchen und nippen an Pappbechern. Ein Großteil der Leute, die zur Tafel kommen, seien Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose, erzählt Jacobs.
Zwar ist die offizielle Arbeitslosenquote mit 3,8 Prozent sehr niedrig, es herrscht so gut wie Vollbeschäftigung. Doch für Mindestlohnempfänger und Kleinverdiener reicht das Einkommen trotzdem kaum angesichts der Teuerung. Die Not frisst sich langsam sogar in die untere Mittelschicht hinein.
Besonders armutsgefährdet sind Alleinerziehende. „Wir hatten beispielsweise eine Mutter mit einem behinderten Kind“, erzählt Jacobs. Weil die Mutter von der einen Sozialleistung auf die andere umstieg, gab es eine sechswöchige Lücke in den Zahlungen.
Ein anderer Fall war ein alleinerziehender Vater mit zwei Söhnen. Als die Mutter auszog, musste er seine Arbeit aufgeben, war auf die Spenden der Tafel angewiesen. „Das ist aber eine erfreuliche Geschichte“, sagt Jacobs, „denn heute haben wir ihn als unseren Fahrer anstellen können.“
Ukrainekrieg erhöht Zahl der Bedürftigen
Der Anstieg der Armut erklärt sich zum Teil auch mit dem Zustrom von Flüchtlingen und Asylbewerbern. Etwa jeder 15. Hilfesuchende bei der Tafel in Kingston sei aus der Ukraine, schätzt Jacobs.
Der Zustrom aus der Ukraine ist auch in Deutschland einer der Gründe für den Andrang auf die Tafeln. Tanya van Dalen vom Kinderhilfsverein Growbaby schätzt, sogar fast ein Drittel ihrer Spenden gehe an Flüchtlinge und Asylbewerber.
Sie versucht, den Hilfesuchenden eine gewisse Geborgenheit zu geben. In „The Hub“, dem Ladenlokal des Vereins, serviert sie Getränke und Sandwiches. „Mein Ziel ist es, einen sicheren Platz und Gemeinschaftsgefühl zu schaffen“, sagt sie.
In der Adventszeit sammelt Growbaby jedes Jahr Weihnachtsgeschenke für Kinder aus bedürftigen Familien. 2500 waren es letztes Jahr, etwa 3000 Geschenkpakete hofft Tanya van Dalen dieses Jahr zusammenzubekommen. Freiwillige Helfer sitzen dann zusammen und verpacken stundenlang die Spielsachen und Kleidungsstücke.