Tuesday, November 29, 2022

Wie konnten so viele Chinesen trotz Zensur gleichzeitig protestieren? Ein Teil der Antwort: wegen Twitter, Instagram und Telegram

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Wie konnten so viele Chinesen trotz Zensur gleichzeitig protestieren? Ein Teil der Antwort: wegen Twitter, Instagram und Telegram Artikel von Matthias Sander, Shenzhen • Vor 4 Std. In Peking präsentieren Demonstranten am Sonntagabend leere weisse Blätter aus Protest gegen die Null-Covid-Politik und die Zensur. Kevin Frayer / Getty Images AsiaPac Mitte Oktober, kurz vor dem wichtigen 20. Kongress von Chinas Kommunistischer Partei, demonstrierte ein Mann in Peking mit Transparenten an einer Brücke gegen die strenge Covid-Politik und den «Diktator» und «Landesverräter Xi Jinping». Viele Chinesen kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Trotz der allgegenwärtigen Überwachung durch Kameras, trotz der automatisierten Gesichtserkennung und den omnipräsenten Wachmännern in der Hauptstadt: Ein einzelner, mutiger Mann hatte es geschafft, seinen Unmut auszudrücken und offen das Regime zu kritisieren. Danach passierte das Erwartbare: Der Mann wurde von Polizisten abgeführt, die Brücke mitten in Peking fortan von Wachmännern besetzt. Fotos und Videos des Protests im chinesischen Internet wurden gelöscht. Von dem lediglich als «Brückenmann» bekannten Demonstranten fehlt seitdem jede Spur. Viele Beobachter sahen sich in ihrer Meinung bestätigt, dass in Xi Jinpings China offene Proteste kaum noch möglich sind. Schon gar keine Massenproteste in mehreren Städten gleichzeitig. Wie sehr sie falschlagen. Seit Freitag haben sich an drei Abenden hintereinander in verschiedenen Landesteilen jeweils Hunderte Chinesen versammelt. In Schanghai taten sie das in der Urumqi-Strasse, benannt nach der Hauptstadt der Uiguren-Region Xinjiang, in der bei einem Feuer nach Behördenangaben zehn Personen ums Leben gekommen waren – womöglich auch, weil Covid-Restriktionen die Rettung erschwerten. Chinesen protestieren in 15 Provinzen An vielen Orten, offenbar insbesondere an Universitäten, gab es Generalkritik am Regime: Demonstranten skandierten «Freiheit», «Demokratie» und «Nieder mit der Kommunistischen Partei!». Das Singapurer Online-Medium «The Initium» zählte an 79 Universitäten in 15 der 34 chinesischen Provinzen verschiedenartige Aktionen von einfachen Solidaritätsbekundungen bis zu Massenprotesten. Wie war das möglich, trotz massiver Online-Zensur? Wie konnten so viele Leute gleichzeitig auf die gleiche Weise in Städten protestieren, die Hunderte, teilweise ein paar tausend Kilometer voneinander entfernt liegen? In einem Land ohne organisierte Zivilgesellschaft, in dem selbst sogenannte Nichtregierungsorganisationen oft eigene Parteisektionen haben? Die kurze Antwort: auch dank sozialen Netzwerken. Auf chinesischen Plattformen spielten sie geschickt Katz und Maus mit den Zensoren, wie etwa der Soziologe Yang Zhang von der American University in Washington auf Twitter feststellte. Am Ende gewinnen zwar immer die Zensoren, aber längst sind viele Inhalte auf ausländische Plattformen wie Twitter, Youtube, Instagram und Telegram kopiert. Die lange Antwort: Seit Mittwoch vergangener Woche verbreiteten sich unter anderem auf Chinas Tiktok-Pendant Douyin Kurzvideos des Arbeiteraufstands bei Foxconn, dem wichtigsten Zulieferer des iPhone-Konzerns Apple. Wütende Arbeiter protestierten und randalierten auf dem riesigen Firmengelände im zentralchinesischen Zhengzhou, weil Foxconn zunächst eine versprochene Covid-Prämie zurückzunehmen schien. Das Gelände befindet sich im harten Lockdown, die Verpflegung und die Hygiene sind offenbar schlecht. Viele Internetnutzer zeigten sich solidarisch mit den Arbeitern. Ein Demokratie-Aktivist der Proteste von 1989 mischt mit Die Videos und viele Solidaritätsbekundungen wurden wie üblich von Zensoren gelöscht. Aber einige Posts wurden auf ausländische Netzwerke hochgeladen, ausserhalb der Reichweite der chinesischen Zensur. Auf Twitter etwa hat das chinesischsprachige Konto Whyyoutouzhele mehr als 600 000 Follower. Diese werden vom Betreiber um Zusendung von Material inklusive Zeit- und Ortsangaben gebeten. Ebenfalls sehr aktiv auf Twitter ist der in den USA lebende Menschenrechtsaktivist Zhou Fengsuo, der bei den Demokratieprotesten im Jahr 1989 in China eine führende Rolle spielte. Nur einen Tag nach den Unruhen bei Foxconn, am vergangenen Donnerstag, kam es zu dem Brand in Urumqi, das seit rund hundert Tagen im harten Lockdown ist. Schon wieder machten in Chinas sozialen Netzwerken Bilder von wütenden Demonstranten die Runde. Rasch bezweifelten Internetnutzer die Darstellung der Behörden, wonach die Lockdown-Barrikaden und Strassensperren in Urumqi die Rettung nicht beeinträchtigt hätten. Fotos und Videos aus anderen chinesischen Städten zeigten Gebäude im Lockdown, deren Türen und Notausgänge mit Veloschlössern verriegelt waren. Am Freitagabend geschah, was in China bei Online-Protesten oft passiert. Je später es wurde, desto mehr Leute hatten nach der Arbeit Zeit zum Posten. Und desto weniger kamen die Zensoren – vermutlich zunächst spärlich besetzt – mit dem Löschen hinterher. Livestreams aus der Hauptstadt Xinjiangs schienen erneut Proteste zu zeigen. Im sozialen Netzwerk WeChat teilten solidarische Nutzer einen langen Beitrag, der zur Umgehung der Zensur aus den immergleichen zwei Schriftzeichen bestand, jenen für «zhi chi» – «unterstützen». Das dazugehörige Bild erinnerte an ein rotes Flammenmeer. Andere teilten einfach ein leeres, weisses Bild. Oder sie verschickten Texte im Bildformat, teilweise mit zufälligen Linien überzogen. Auf diese Weise sind sie für Zensur-Software schwerer erkennbar. Am Samstagmorgen waren solche Inhalte im chinesischen Internet weitgehend verschwunden. Aber auf ausländischen Plattformen überlebten sie erneut. So verbreiteten sich schliesslich auch Protestaufrufe. Auf dem Twitter-Pendant Weibo etwa hiess es zu einer Kundgebung am Sonntagabend in Peking schlicht: «Bringt Blumen, bringt Papier, bringt Kerzen.» Darunter standen die genauen Koordinaten für das Treffen an einem Flussufer. Das war alles. Hunderte Leute kamen. Sie hielten leere weisse Papierblätter in die Höhe, ähnlich wie zuvor die Online-Demonstranten. Sie sangen Slogans des «Brückenmanns», der Mitte Oktober noch ganz allein in Peking protestiert hatte. Auf Twitter und Instagram finden sich dieser Tage ähnliche Protestaufrufe. In Hangzhou bei Schanghai soll es am Montagabend eine Versammlung geben; am Dienstagabend eine in Shenzhen vor dem Rathaus. Es ist sehr fraglich, ob die Behörden das zulassen werden. In Schanghai liessen sie in der Nacht auf Montag in der Urumqi-Strasse, in der die Leute am Wochenende protestiert hatten, längs der Trottoirs mannshohe Barrikaden errichten. Auch auf Twitter hat die chinesische Regierung offenbar längst zum Gegenschlag ausgeholt. Wer dort nach den chinesischen Schriftzeichen für Metropolen wie Peking, Schanghai oder Shenzhen sucht, der findet im Sekundentakt veröffentlichte Fotos spärlich bekleideter junger Frauen, begleitet von schlüpfrigen Sätzen und Hashtags wie #Shenzhen. Man muss endlos durch diese Beiträge scrollen, bevor man normale Inhalte findet. Ein Twitter-Nutzer namens «Air-Moving Device» hat in einer Datenauswertung gezeigt, dass die Mehrheit dieser Konten erst seit Freitag Beiträge veröffentlicht, also seit Beginn der Online-Proteste, die so rasch zu Strassenprotesten wurden. Die Vermutung liegt nahe, dass die chinesische Regierung dank automatisierten Bots Twitter mit Spam fluten will, damit Chinesen dort keine Informationen zu möglichen Protesten finden.