Friday, April 8, 2022
Sahra Wagenknecht im Interview: „Ich bin kein bedingungsloser Pazifist“
Berliner Zeitung
Sahra Wagenknecht im Interview: „Ich bin kein bedingungsloser Pazifist“
Max Florian Kühlem - Gestern um 09:38
Berliner Zeitung: Frau Wagenknecht, Ihre Position zum Krieg in der Ukraine wurde kontrovers aufgenommen, Ihr Fraktionskollege Gregor Gysi äußerte sogar Entsetzen. Könnten Sie noch einmal kurz zusammenfassen, was passiert ist?
Sahra Wagenknecht: Das ist ein verbrecherischer, völkerrechtswidriger Krieg, für den es keine Rechtfertigung gibt. Aber das ändert natürlich nichts daran, dass dieser Krieg eine Vorgeschichte hat und dass es genauso falsch ist, über sie nicht mehr zu reden. Zur Vorgeschichte gehört, dass nach dem Ende des Kalten Krieges die Chance vertan wurde, mit Russland gemeinsam eine neue Sicherheitsordnung, eine europäische Friedensordnung zu entwickeln. Die Amerikaner waren nur an einem interessiert: ihre Rolle als einzige Weltmacht zu zementieren und Russland kleinzuhalten. Zu dieser Strategie gehörte, die amerikanische Einflusszone auf all die Gebiete auszuweiten, aus denen sich Russland nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zurückgezogen hatte. Das hat die russische Führung immer kritisiert: Die Nato-Osterweiterung, die Raketenbasen in Osteuropa, die einseitige amerikanische Aufkündigung wichtiger Abrüstungsverträge, das demonstrative Ignorieren des UNO-Sicherheitsrats. Es wurde in den letzten Jahren schon deutlich, dass die Ukraine eine rote Linie ist. Es ist immer wieder gesagt worden, dass Russland einen möglichen Nato-Beitritt oder die faktische Integration der ukrainischen Streitkräfte in die Nato – es waren ja 2021 schon 2000 US-Soldaten in der Ukraine und auf ihrem Territorium haben Nato-Manöver stattgefunden –, dass Russland das nicht hinnehmen wird.
Sie sprechen sich gegen jegliche Beteiligung an diesem Krieg aus, gegen Waffenlieferungen, aber zuletzt auch gegen Wirtschaftssanktionen, weil sie Teile der deutschen Bevölkerung zu stark treffen würden. Das ist hochumstritten. Was wäre aus Ihrer Sicht der richtige Weg?
Man muss jetzt alles tun, diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Ich gehe nach allem, was ich gelesen habe, nicht davon aus, dass die Ukraine ernsthaft eine Chance hat, den Krieg zu gewinnen. Wenn das so ist, dann verlängern Waffenlieferungen nur den Krieg und erhöhen die Zahl der Opfer. Wenn es außerdem so ist, dass es bei diesem Krieg nicht um einen Wertekonflikt zwischen westlichen Demokratien und einem autoritären Staatssystem geht, sondern um Einflusszonen, dann gibt es eine Basis für Verhandlungen. Der Schlüssel ist eine garantierte Neutralität der Ukraine als Preis für ein Ende der Kampfhandlungen und einen Rückzug der russischen Truppen. Was die Wirtschaftssanktionen angeht: Ich habe nichts gegen Sanktionen, die Putin und sein Umfeld persönlich treffen.
Aber bei den aktuell beschlossenen Maßnahmen sehen wir doch, dass sie uns mehr schaden als Russland. Der russische Rubel-Kurs ist fast wieder auf dem Stand von vor dem Krieg – auch weil der größte Teil der Welt sich an den Sanktionen gar nicht beteiligt. In Deutschland hingegen haben wir schon jetzt massive wirtschaftliche Probleme und eine Inflation von über sieben Prozent. Und ein vollständiges Öl- und Gasembargo: Das würde Hunderttausende Arbeitsplätze zerstören und wäre möglicherweise das Ende großer Teile der deutschen Industrie. Außerdem ist es für viele Familien nicht zu stemmen, wenn sich der Gaspreis mal eben verfünffacht. Wir würden mutwillig die Basis unseres Wohlstands zerstören und den Krieg auf diesem Weg ganz sicher nicht beenden.
Der Ausspruch „Ich bin entsetzt“ Ihres Kollegen Gregor Gysi bezog sich auch auf die Emotionslosigkeit, mit der Sie das Thema aus seiner Sicht behandeln. Was machen Bilder wie die von getöteten Zivilisten aus Butscha mit Ihnen; die Tatsache, dass ein souveränes Land zum Spielball und Opfer von Großmacht-Politik wird?
Das ist furchtbar! Und natürlich lassen solche Bilder mich nicht kalt. Trotzdem habe ich Zweifel, ob uns eine von Emotionen geleitete Debatte weiterbringt. Der Konflikt in der Ukraine hat das Potential, zu einem dritten Weltkrieg zu eskalieren. Ich bin immer wieder entsetzt, wenn ich sehe, wie Leute in Talkshows sitzen und allen Ernstes fordern, wir sollten da jetzt mit Nato-Truppen eine Flugverbotszone über der Ukraine errichten oder auf andere Art militärisch eingreifen. Das wäre vielleicht die einzige Möglichkeit, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnt, aber es würde mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einem nuklearen Inferno führen, das wir in Europa nicht überleben würden. Deshalb ist es so wichtig, dass wir, bei aller emotionalen Betroffenheit, unseren Verstand nicht ausschalten. Was ich auch scheinheilig finde, ist das Gerede von einer „Zeitenwende“. Ja, dieser Krieg ist ein Verbrechen, das Leid der Menschen in der Ukraine ist unermesslich. Aber gilt das für die vielen anderen Kriege, die allein in den letzten 20 Jahren geführt wurden, nicht in gleichem Maße? Für den Irak, für Afghanistan, für die Bombardierung libyscher und syrischer Städte? Im Jemen sterben täglich Kinder und Frauen, weil es massive Militärschläge der von Saudi-Arabien geführten Allianz gibt. Da wird seit Jahren ein ganzes Land in Schutt und Asche gebombt – und das sind jetzt unsere neuen Partner, bei denen wir betteln, dass sie uns Öl und Gas liefern, weil wir es nicht mehr aus Russland beziehen wollen.
Wenn Sie sich gegen Waffenlieferungen, generell kriegerische Interventionen und Aufrüstung aussprechen, vertreten Sie damit Positionen der alten linken Friedensbewegung?
Ich bin kein bedingungsloser Pazifist. Die Bundeswehr muss in der Lage sein, Deutschland zu verteidigen. Wenn das aktuell nicht der Fall ist, muss man fragen, wieso mit einem Militärbudget von 50 Milliarden Euro solche elementaren Aufgaben nicht erfüllt werden. Ich bin nicht der Meinung, dass wir uns in der heutigen Welt entwaffnen sollten und keine Verteidigungsfähigkeit brauchen. Aber die immense Aufstockung des Etats, von der heute gesprochen wird, macht unter dem Aspekt der Verteidigungsfähigkeit keinen Sinn. Da sollen neue Bomber angeschafft werden, die Atombomben transportieren können, als wäre ein Atomkrieg mit Russland führbar. Ich halte das für Wahnsinn. Deutschland würde einen solchen Krieg nicht überleben und auch ein Raketenschutzschild wird uns dabei nicht helfen, weil es etwa gegen Hyperschallraketen kaum etwas ausrichten kann. Man muss also trotz allem versuchen, wieder den Weg von Abrüstung und neuen Sicherheitsvereinbarungen einzuschlagen. In einer atomar extrem hochgerüsteten Welt reicht ein Missverständnis, ein Zufall, ein Computerfehler, um ein Inferno auszulösen.
Noch beim letzten Irak-Krieg waren deutschlandweit Hunderttausende auf der Straße, um gegen den Krieg zu demonstrieren. Heute scheint Pazifismus aus der Mode zu geraten, die Meinung sich durchzusetzen, einem Aggressor wie Putin könne man nur mit Härte begegnen. Was hat sich geändert?
Verändert hat sich natürlich auch die Berichterstattung in den meisten Medien. Die war beim Irak-Krieg, an dem wir uns aus guten Gründen nicht beteiligt haben, ja relativ kritisch. Die Debatte jetzt wird massiv emotionalisiert. Heute gilt es in Deutschland plötzlich wieder als heroisch und tapfer, „für das Vaterland“ zu sterben.
Der Friedensbewegung wird oft ein schiefes Russlandbild vorgeworfen, auch Sie werden als „Russland-Versteherin“ bezeichnet.
In Russland herrscht ein autoritärer Oligarchenkapitalismus, das wurde von mir auch schon vor dem Krieg angesprochen. Außerdem ist Russland die zweitgrößte Atommacht der Welt und wie andere Großmächte denkt es in Einflusssphären. Eine ehrliche Position dazu ist nur möglich, wenn man nicht mit zweierlei Maß misst. Der Krieg in der Ukraine ist genauso zu verurteilen wie die von den USA angeführten Kriege in Jugoslawien, im Irak, in Afghanistan oder in Libyen. Es wäre völlig falsch, den russischen Krieg milder zu beurteilen, aber man sollte sich auch erinnern: als amerikanische Bomben auf den Irak fielen – ein Krieg, der mindestens 500.000 Menschen das Leben gekostet hat –, gab es keinerlei Sanktionen. Und in Afghanistan, wo 20 Jahre lang ein blutiger Krieg mit zahllosen zivilen Opfern geführt wurde, hat sich Deutschland sogar beteiligt.
Sehen Sie auch eine Teilung von West- und Ostdeutschland in der Einschätzung dieses Krieges? Fühlt man sich in Ostdeutschland Russland wieder – oder noch – näher?
Wir hatten vor dem Krieg einen hohen Anteil in der gesamten Bevölkerung, der gesagt hat, wir brauchen bessere Beziehungen zu Russland. Das ist natürlich infolge der russischen Aggression deutlich zurückgegangen. Aber ich glaube, dass viele Menschen es trotz allem so sehen, dass es eine für unsere Sicherheit und auch für unsere Wirtschaft existenzielle Frage ist, dass wir mit Russland – und Russland ist ja nicht nur Putin – ein stabiles und halbwegs kooperatives Verhältnis haben bzw. es wieder erreichen.
Sie sind eine der Politikerinnen mit der größten Medienpräsenz im Land – bekleiden aber gar kein führendes Amt. Wie erklären Sie sich das?
Ich bin Bundestagsabgeordnete und ich vertrete klare Positionen – das ist sicher ein Grund. Ich weiß, dass ich polarisiere, aber ich bekomme auch viel positive Resonanz. Viele Menschen wünschen sich, dass Politiker klar Position beziehen und sich nicht immer herumwinden.
Wenn man nach der Anzahl der Facebook-Follower geht, sind Sie das beliebteste Mitglied des Bundestags mit rund 600.000 Nutzern, die Ihrer Seite folgen. Olaf Scholz kratzt gerade mal an der 100.000-Marke. Was bezwecken Sie mit den vielen Einwürfen dort?
Ich bin kein Anhänger der amerikanischen Digitalkonzerne, die mit ihren Algorithmen ja auch manipulieren. Trotzdem sind sie natürlich ein Weg, sehr viele Menschen zu erreichen, mit gut laufenden Posts manchmal über eine Million. Das ist für einen Politiker, der bei den Menschen für seine Argumente werben möchte, wichtig.
Man bekommt manchmal den Eindruck, dass Sie losgelöst von Parteipolitik – auch der Politik Ihrer eigenen Partei – eine eigene Agenda verfolgen. Was ist das für eine Agenda? Es gibt Stimmen, die sagen, Sie schaden Ihrer Partei mehr, als dass Sie ihr nützen.
Im Grunde ist es die Agenda, für die die Linke einmal gegründet wurde. Ich bin ja bewusst Linke-Mitglied geworden: Ich möchte, dass unser Land gerechter wird, dass auch diejenigen politisch eine Stimme haben, denen es nicht so gut geht, die keine tollen akademischen Abschlüsse haben und von niedrigen Löhnen und mageren Renten leben müssen. Das ist für mich links. Und zu dem Vorwurf, dass ich der Partei schade: Naja, ich war ja nur einmal Spitzenkandidatin in einem Bundestagswahlkampf, mit Dietmar Bartsch zusammen im Jahr 2017. Da hatten wir 9,2 Prozent, es war das zweitbeste Ergebnis, das die Linke je erreicht hat. Heute liegen wir zwischen 4 und 5 Prozent.
Sie sind allerdings 2019 vom Vorsitz zurückgetreten wegen „gesundheitlicher Probleme“. Sehen Sie sich nicht oder nicht mehr als Führungsfigur?
Man kann nur erfolgreich in einer führenden Position sein, wenn man ausreichend Rückhalt hat. Ich hatte Anfang 2019 einen Burnout. Das hat mir gezeigt, wo meine Grenzen sind. Jeder Mensch hat ein bestimmtes Reservoir an Kraft, und wenn das aufgebraucht ist, muss man sich neu orientieren. Ich will ja die Gesellschaft verändern und nicht interne Kleinkriege führen.
Sie nutzen Ihre Medienpräsenz derzeit oft, um Corona-Maßnahmen zu kritisieren. Eine Impfpflicht, die Sie vehement ablehnen, ist nun erst mal vom Tisch, Gesundheitsminister Lauterbach will aber weiter dafür kämpfen. Was wäre Ihr Weg aus der Krise?
Es gibt vernünftige Maßnahmen, durch die man diejenigen schützen kann, für die das Virus immer noch gefährlich ist, also sehr alte und kranke Menschen. Die früheren Virus-Varianten waren natürlich deutlich aggressiver. Das ändert aber nichts daran, dass viele Maßnahmen mehr Schaden angerichtet als Menschenleben gerettet haben: Die Schulschließungen, Maskenpflicht an Schulen, massenhaftes Testen von gesunden Menschen mit Tests, die zumindest bei Omikron offenbar gar nicht sehr aussagekräftig sind. Andererseits haben wir ja Glück, dass mit Omikron das Virus so mutiert ist, dass es nur noch sehr selten schwere Verläufe gibt. Es ist jetzt wirklich vergleichbar mit der Grippe. In der winterlichen Grippesaison hatten wir oft sogar eine größere Belastung der Intensivstationen als jetzt mit den Rekord-Inzidenzen. Die Impfung schützt außerdem gar nicht davor, sich zu infizieren und andere anzustecken. Jeder kennt mittlerweile Menschen, die geboostert waren und trotzdem erkrankten. Letztlich muss jeder selbst entscheiden, wie er sich schützt, man muss das in die Verantwortung der Menschen zurückgeben. Gerade bei Impfstoffen, die relativ neu sind und bei denen offenbar relativ viele Nebenwirkungen auftreten – bei solchen Impfstoffen verbietet sich eine Impfpflicht, egal für welche Altersgruppe.
Haltungen zu Corona-Maßnahmen wurden in Deutschland schnell in das politische Links-Rechts-Schema eingeordnet. Für die Maßnahmen zu sein galt als links und solidarisch. Können Sie das nachvollziehen?
Nein. Eine Impfpflicht ist ja eher eine autoritäre Maßnahme und traditionell fand man das nicht links. Und eine Impfung, die gar keinen Schutz anderer gewährleistet, hat auch nichts mit Solidarität zu tun. Ich kann mich noch erinnern, als wir die Debatte über die Masern-Impfpflicht hatten – für die deutlich mehr spricht, weil der traditionelle, seit Jahrzehnten erprobte Impfstoff eine sterile Immunität schafft –, da waren große Teile der Grünen dagegen. Hier haben sich heute völlig die Seiten verkehrt. Und ja, vor einem Jahr konnte man vielleicht noch glauben, wenn wir 70 Prozent geimpft haben, haben wir Herdenimmunität, wer geimpft ist, kann nicht mehr krank werden und das Virus nicht mehr weitergeben. Aber wer das jetzt noch glaubt, nimmt die Realität nicht zur Kenntnis.
Was wäre für Sie also solidarisches Handeln in dieser Krise?
Wenn man wirklich gesellschaftliche Solidarität groß schreibt, dann wäre ein ganz wichtiger Punkt, dass wir die Finanzierung unserer Krankenhäuser endlich wieder am Gemeinwohl ausrichten, dass wir wegkommen von den Fallpauschalen und den Pflegenotstand bekämpfen. Dass viele Menschen für die Impfpflicht sind oder waren, liegt ja daran, dass man ihnen eingeredet hat, dass sonst die Krankenhäuser überlastet sind und wir möglicherweise Triage durchführen müssen. Dazu ist es glücklicherweise nie gekommen. Trotzdem kommt es – und das war auch schon vor Corona so – im Winter oft zu massiven Engpässen, und die haben vor allem mit dem Pflegenotstand zu tun. Dafür ist unser jetziger Gesundheitsminister als damaliger Berater der Regierung Schröder mitverantwortlich. Man hat Krankenhäuser auf Profit getrimmt, Personal ausgedünnt und Löhne gedrückt. Daran hat sich bisher nichts verändert. Echte Solidarität bedeutet für mich, dass eine Gesellschaft mehr Ressourcen bereitstellt für ein gutes Gesundheitssystem, das den Schwachen, den Älteren, den Vulnerablen am meisten zugutekommt.