Friday, April 29, 2022

Wie man Osteuropa einfach verschwinden lässt

WELT Wie man Osteuropa einfach verschwinden lässt Artur Weigandt - Gestern um 22:58 „Es ist nicht das erste Mal, dass der ukrainische Botschafter Ungeheuerliches sagt“, kritisiert „Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer Botschafter Melnyks Reaktion auf ihren offenen Brief an Kanzler Scholz. Zuvor hatte sie mit weiteren Prominenten vor der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine gewarnt. Wer meint, einen Aufruf gegen deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine unterschreiben oder gar schreiben zu müssen, hat offensichtlich keinerlei Ahnung von Osteuropa, geschweige denn von der Situation in der Ukraine seit dem Überfall Russlands. Den Beweis dafür haben heute die Unterzeichner eines offenen Briefes an Bundeskanzler Olaf Scholz in der Zeitschrift „Emma“ geliefert. Dort loben 28 Intellektuelle und Künstler Scholz’ Besonnenheit und warnen vor einem möglichen dritten Weltkrieg. Sie vergessen dabei Lettland, Estland, Litauen oder Polen: Diese osteuropäischen Länder machen sich seit geraumer Zeit Sorgen um ihre territoriale Integrität – und somit um ihre Souveränität. Es ist die Furcht vor Russland und seiner aggressiven Expansionspolitik, die in diesen Ländern herrscht. Was diese souveränen Staaten deshalb sicher nicht brauchen, sind prominente oder halb prominente Deutsche, die einmal mehr den Erklärbär geben. Es ist ein sehr deutsches Problem: Sobald es um die deutsch-russischen Beziehungen geht, verschwinden alle Länder zwischen Deutschland und Russland oft auf magische Weise aus dem Blick. Was heute dabei aus dem Blick gerät, ist die Existenzberechtigung eines souveränen Staates. Die Existenzberechtigung der Ukraine. Kein Osteuropäer wird gefragt Denn wie soll es zu einem Waffenstillstand kommen, wie ihn sich die Unterzeichner des offenen Briefes wünschen, wenn die Bedingungen nur die Bedingungen Russlands sein können und somit die Souveränität der Ukraine verletzen müssen? Und wie soll Kanzler Scholz eigentlich auf einen Frieden einwirken, wenn er den Krieg schon nicht verhindert hat? Haben die Unterzeichner des „Emma“-Briefes – stündlich werden es mehr – die Bilder aus Butscha, Irpin oder Mariupol nicht gesehen? Haben sie Babyn Jar und Holodomor vergessen? So scheint es. Sonst würden sie fordern, die Ukraine bei ihrer Selbstverteidigung zu unterstützen, statt sie mit dem russischen Aggressor allein zu lassen. Denn das ist unsere historische Verantwortung. Die Unterzeichner des Briefes tauschen Geschichte gegen Feigheit ein. Es ist die ewig alte Leier: Kein Osteuropäer wird gefragt. Kein ukrainischer Intellektueller wird gefragt. Weil Dieter Nuhr, Lars Eidinger, Alice Schwarzer oder Juli Zeh den besseren Überblick haben? Aus einem friedlichen Deutschland heraus? Sie setzen das Leben ukrainischer Menschen aufs Spiel. In offenen Briefen sollten sich Experten zu Wort melden. Und einen solchen Brief gab es auch seit Kriegsbeginn: Geschrieben wurde er von Osteuropa-Experten. Sie haben Waffen für die Ukraine gefordert.