Saturday, April 30, 2022

Plötzlich spielt die Artillerie wieder eine wichtige Rolle – eine jahrhundertealte Waffe rückt im Ukraine-Krieg in den Fokus

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Plötzlich spielt die Artillerie wieder eine wichtige Rolle – eine jahrhundertealte Waffe rückt im Ukraine-Krieg in den Fokus Werner J. Marti, Christian Kleeb (Grafik) - Gestern um 05:30 Bei moderner Kriegführung denkt man heute wohl eher an Drohnen und Cyber War als an Artilleriegeschütze. Letztere spielten nach der Erfindung des Schiesspulvers seit dem Spätmittelalter eine bedeutende Rolle in den militärischen Konflikten, sei es in offenen Feldschlachten, bei der Belagerung von Befestigungen und Städten oder in den Grabenkriegen des Ersten Weltkrieges. Doch nach Ansicht vieler Militärstrategen wurde die Artillerie nach dem Ende des Kalten Krieges für den modernen Kampf immer weniger wichtig. Die gezogenen Haubitzen gleichen am ehesten noch den Artilleriegeschützen früherer Jahrhunderte. So steht etwa im Bericht des Schweizer Bundesrates von 2016 zur Zukunft dieser Waffengattung, dass der klassische Einsatz von Artilleriefeuer gegen grossflächige Ziele generell an Bedeutung verloren habe und voraussichtlich weiter an Bedeutung verlieren werde. Dementsprechend wurde etwa in der Schweizer Armee die stationär in Festungen eingebaute Festungsartillerie abgeschafft und die Zahl der mobilen Artillerieabteilungen (entspricht Bataillonen) seit 1989 von 45 auf 4 reduziert, wobei die heutigen Abteilungen im Vergleich zu früher über deutlich mehr Feuerkraft verfügen. Stellungskrieg im Osten Doch in der zweiten Phase des Angriffskriegs in der Ukraine, bei welcher die russische Armee breit auf der mehrere hundert Kilometer langen Front im Osten des Landes vorrücken will, spielt die Artillerie plötzlich wieder eine Schlüsselrolle. Für einen Vorstoss an der vielerorts mit Schützengräben befestigten Front benötigen die Russen intensives Artilleriefeuer, um den Widerstand der Ukrainer auszuschalten und mit ihren Truppen vorrücken zu können. Dies umso mehr, als die erste Kriegsphase gezeigt hat, welch verheerende Wirkung einfache tragbare Defensivwaffen wie die Panzerabwehrlenkwaffe Javelin beim gegenwärtigen Stand der Kriegstechnik für den Angreifer haben können. Artillerie ist zudem die bevorzugte Waffe der Russen für ihren Vernichtungsfeldzug gegen dicht bewohnte Gebiete, der einem insbesondere in Mariupol in seinem ganzen Schrecken vor Augen geführt wird. Dieser scheint darauf abzuzielen, die für das Überleben der Bevölkerung notwendige Infrastruktur auszulöschen. Aufseiten der Ukraine spielt die Artillerie auch für den Abwehrkampf eine wichtige Rolle. Mit Artilleriefeuer kann der gegnerische Vormarsch an Sperren gestoppt und die Truppen kampfunfähig gemacht werden. Ausserdem können gegnerische Artilleriestellungen mit dem sogenannten Konterbatterie-Feuer bekämpft werden. Dies ist ein besonders wichtiges Mittel für die Ukraine, da ihre Luftwaffe für eine Bombardierung der russischen Stellungen aus der Luft zu schwach ist. Ein komplexes System In der ersten Kriegsphase haben leichte, aus dem Westen gelieferte Panzer- und Flugabwehrwaffen, deren Gebrauch relativ rasch instruiert werden konnte, den ukrainischen Verteidigern einen bedeutenden Vorteil gebracht. Bei der Artillerie ist nun aber die ukrainische Seite, sowohl was die Anzahl Geschütze wie auch was die Munitionsreserven angeht, deutlich unterlegen. Doch als Abhilfe genügt es nicht, eine grössere Zahl von aus dem Westen gelieferten Geschützen ins Feld zu stellen. Die Artillerie ist ein ganzes System, bei dem die gezogenen Haubitzen, die selbstfahrenden Panzerhaubitzen und die Mehrfachraketenwerfer (siehe Video vom Manöver des 400. russischen Artillerieregiments von 2020) nur ein Teil eines Ganzen sind, das zusammenspielen muss. Damit eine Artillerieeinheit erfolgreich operieren kann, braucht es in Frontnähe Beobachtungsorgane (Schiesskommandanten, engl. Spotter), die in Zusammenarbeit mit dem taktischen Kommandanten der Kampftruppen Ziele definieren und danach den Feuerbefehl an die Feuerleitstelle geben. Diese berechnet die Schiesselemente der Geschütze (Rohrrichtung, Rohrneigung, Ladungsstärke und Flugdauer des Geschosses, falls dieses bereits in der Luft explodieren soll) und gibt diese an die Geschütze weiter. Die Logistikformation der Einheit ist für die Bereitstellung der Munition verantwortlich. Bei intensivem Einsatz benötigt ein einzelnes Geschütz mindestens zwei Tonnen Munition pro Tag, wobei eine Batterie, die kleinste artilleristische Einheit, die einer Kompanie entspricht, typischerweise sechs Geschütze besitzt. Ausserdem verfügen die russischen und die ukrainischen Artillerieeinheiten über einen Aufklärungsradar für das Konterbatterie-Feuer. Dieser bestimmt aufgrund der Flugbahnen der gegnerischen Geschosse die Koordinaten der feindlichen Artilleriestellung und meldet sie an die Feuerleitstelle, damit die sogenannte Konterbatterie mit Artilleriefeuer bekämpft werden kann. Bei einer praktischen Schussdistanz ohne Spezialmunition von bis zu 25 Kilometern müssen die einzelnen Teile der Artillerieeinheit mit grossen Entfernungen zwischen einander operieren können. Für die Kommunikation untereinander ist deshalb zusätzlich eine Übermittlungseinheit notwendig. Die Ausbildung an neuen, aus dem Westen gelieferten Geschützen und an den weiteren Geräten wird nicht mehr in wenigen Tagen möglich sein, wie es für die leichten Waffen zu Beginn des Krieges geschah. Experten rechnen selbst bei Artillerie-affinen Militärangehörigen mit mindestens einem Monat, um eine neue Einheit einsatzfähig zu machen, wenn statt sowjetischem Material aus den früheren Ostblockstaaten moderne Waffen aus westlicher Produktion geliefert werden. Zur Unterstützung der Ukrainer ist deshalb eine möglichst rasche Lieferung entscheidend. Ein russischer Mehrfachraketenwerfer BM-21 Grad. Die Raketenartillerie kann weiter schiessen als die herkömmlichen Haubitzen und Panzerhaubitzen (im konkreten Fall bis etwa 45 Kilometer). Ilya Pitalev / Imago © Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung Deutschland Ein russischer Mehrfachraketenwerfer BM-21 Grad. Die Raketenartillerie kann weiter schiessen als die herkömmlichen Haubitzen und Panzerhaubitzen (im konkreten Fall bis etwa 45 Kilometer). Ilya Pitalev / Imago Die Lieferung von moderner Artillerietechnik aus dem Westen statt der älteren Waffen sowjetischer Bauart aus dem ehemaligen Ostblock lohnt sich für die Ukraine aber trotz dem zusätzlichen Ausbildungsaufwand. Es kann dadurch mit einer geringeren Zahl gelieferter Geschütze eine grössere Wirkung erzielt werden: ein Vorteil angesichts der schwierigen Transportwege ins Kriegsgebiet. Verbesserte Beweglichkeit, Präzision und Reichweite Sowohl in Russland und in der Ukraine wie auch in den westlichen Armeen stammen die meisten Panzerhaubitzen noch aus der Zeit des Kalten Krieges. Trotzdem hat die Artillerietechnik in den letzten drei Jahrzehnten bedeutende Fortschritte gemacht. Im Westen dominiert immer noch die amerikanische M109, die seit den 1960er Jahren im Einsatz ist. Im früheren Ostblock wurde als Antwort darauf in den frühen 1970er Jahren die 2S3 Akatsiya und ab 1989 die 2S19 Msta eingeführt. In den USA stoppte das Pentagon 2002 die Entwicklung einer neuen Panzerhaubitze (Crusader). Hingegen entwickelte Deutschland die 155mm Panzerhaubitze 2000, die seit 1998 in verschiedenen europäischen Nato-Ländern im Einsatz steht. Das Geschütz besitzt einen hohen Grad an Autonomie und kann seine Schiesselemente selbständig berechnen, wodurch die Unterstützung durch eine Feuerleitstelle nicht mehr notwendig ist. Die Niederlande sollen nach Kriegsanfang eine kleine Anzahl Panzerhaubitzen 2000 an die Ukraine geliefert haben. Die USA, Kanada und Australien haben der Ukraine die Lieferung von modernen gezogenen 155mm Haubitzen M198 und M777 zugesagt. Bei der letzteren handelt es sich um das modernste Geschütz das zurzeit verbreitet im Einsatz steht. Es ist verhältnismässig leicht und kann auch per Helikopter transportiert werden. Die M777 wurde ab 2005 in Dienst gestellt und kam erstmals in Afghanistan zum Einsatz. Die älteren Panzerhaubitzen wurden in den letzten Jahrzehnten von Grund auf erneuert. Oft blieb dabei nicht viel mehr als die ursprüngliche Fahrzeughülle bestehen. Ziel war dabei unter anderem eine Steigerung der Reichweite durch neue Rohre und eine Erhöhung der Schussfrequenz durch Automatisierung des Ladevorgangs. Ausserdem ist bei den modernen Geschützen keine langwierige Vermessung der Stellungen mehr notwendig. Die Geschütze bestimmen ihre Koordinaten und die genaue Nordrichtung autonom. Sie können damit aus der Bewegung heraus anhalten, schiessen und die Stellung sofort wieder verlassen, was ihre Bekämpfung durch die Konterbatterie schwierig macht. Schliesslich gab es bedeutende Fortschritte bei der Munition, indem die Geschosse mit einem zusätzlichen Raketenantrieb versehen wurden. Dies ermöglicht eine Verlängerung der Schussdistanz und präziseres Schiessen. Die Granaten können im Wirkungsraum nun beispielsweise vom Artilleriebeobachter mit Laser ins Ziel gelenkt werden. Diese Technologie ist allerdings wesentlich teurer als die herkömmlichen Geschosse. Auf dem Schlachtfeld dominiert deshalb immer noch der massenhafte Beschuss durch ungelenkte Granaten, besonders bei den Russen.