Saturday, April 30, 2022

KOMMENTAR - Der Westen nutzt den Ukraine-Krieg zur Schwächung Russlands – diese Chance kann er sich nicht entgehen lassen

Neue Zürcher Zeitung Deutschland KOMMENTAR - Der Westen nutzt den Ukraine-Krieg zur Schwächung Russlands – diese Chance kann er sich nicht entgehen lassen Peter Rásonyi - Vor 16 Std. 28 prominente deutsche Kulturschaffende haben am Freitag einen offenen Brief an Bundeskanzler Scholz auf der Website der Zeitschrift «Emma» veröffentlicht. Darin drücken sie ihre Befürchtung aus, dass der Krieg in der Ukraine sich über ganz Europa und gar zu einem dritten Weltkrieg ausweiten könnte. «Die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt» hätten auch jene, wird argumentiert, die «dem Aggressor sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln» lieferten. Deshalb fordern sie Bundeskanzler Scholz auf, keine weiteren Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine zuzulassen und stattdessen so schnell wie möglich zum Abschluss eines Waffenstillstandes beizutragen. Russland droht mit seinem Atomarsenal Die besorgten deutschen Prominenten reagieren mit ihrem Schreiben auf eine Eskalation des Ukraine-Kriegs, der in den letzten Tagen die Landesgrenzen in verschiedener Hinsicht überschritten hat. Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin hatte am vergangenen Wochenende in Kiew unverblümt zum Ziel erklärt, Russland so geschwächt zu sehen, dass es «solche Dinge wie eine Invasion der Ukraine künftig nicht mehr anstellen» könne. Der russische Aussenminister Sergei Lawrow erinnerte daraufhin am russischen Fernsehen dumpf drohend an «die ernste, reale und nicht zu unterschätzende Gefahr» eines nuklearen Konflikts. Die Sorgen vor der Katastrophe einer nuklearen Eskalation des Ukraine-Kriegs sind ernst und respektabel. Aber solche Warnungen dürfen nicht das politische Handeln des Westens beherrschen – denn dadurch würde dieser zur Marionette, die vor einer gezielt aufgebauten nuklearen Drohkulisse vom brutalen Regime in Moskau ferngesteuert würde. Wie sollte der Westen künftig seine Interessen gegenüber Russland – oder einer anderen Atommacht – vertreten, wenn er in jedem Konflikt vor einer taktisch angedrohten nuklearen Eskalation zurückschreckte? Eine solche Handlungsmaxime wäre gefährlich und würde einen Diktator wie Präsident Putin bloss zu «verbrecherischem Handeln» einladen. Das haben die USA und ihre Alliierten richtigerweise erkannt. Biden nutzt die Gelegenheit entschlossen aus Sie wissen, dass das Risiko sehr gering ist, dass Moskau das übermächtige Nato-Bündnis direkt angreift. Der amerikanische Präsident Biden wies am Donnerstag das russische Gerede über seine Atomwaffen als verantwortungslos zurück. Er kündigte davon unbeeindruckt ein riesiges weiteres Hilfspaket von 33 Milliarden Dollar für die Ukraine an, wovon der Löwenanteil von über 20 Milliarden auf weitere Waffenlieferungen entfallen soll. Gleichzeitig aktivierte der Kongress ein Gesetz aus dem Zweiten Weltkrieg, das die rasche Lieferung von Waffen nach Europa erleichtern soll. Auch mehrere europäische Regierungen haben ihre Bemühungen bekräftigt, schwere Waffen wie Panzer und Artillerie so schnell wie möglich an die Ukraine zu liefern. Davon liessen sie sich auch nicht durch den unvermittelten russischen Lieferstopp für Erdgas an Polen und Bulgarien abhalten. Für die Strategen im Weissen Haus hat sich der russische Überfall auf die Ukraine in den letzten zwei Monaten von einer blossen Bedrohung auch zur Chance gewandelt. Und Präsident Biden scheint entschlossen, diese Chance zu packen. Dank dem tapferen Verteidigungswillen der Ukrainer und den unerwarteten Unzulänglichkeiten der russischen Streitkräfte ist plötzlich ein Szenario aufgetaucht, das westliche Geostrategen sich noch vor wenigen Monaten wohl kaum erträumt hätten: Der Westen kann durch blosse Geld- und Waffenlieferungen, ohne ein signifikantes Risiko eigener Verluste an Menschenleben, zu einer möglichen – noch keineswegs gewissen – Niederlage und lang nachwirkenden Schwächung des militärischen und politischen Aggressionspotenzials von Russland beitragen. Es wäre naiv, zu glauben, eine verantwortungsbewusste amerikanische Regierung würde sich diese Chance entgehen lassen.