Friday, April 29, 2022

Gerhard Schröder: Lebenslänglich Altkanzler

ZEIT ONLINE Gerhard Schröder: Lebenslänglich Altkanzler Lenz Jacobsen - Gestern um 17:42 Wer einmal Kanzler war, wird das Amt nicht mehr los: Der Umgang mit ehemaligen Regierungschefs zeigt, wie sehr die Demokratie noch im Schatten der Könige steht. In der Serie "Politisch motiviert" ergründen unsere Autoren das überwölbende politische Thema der Woche. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende Nr. 18/2022. Die aktuelle Ausgabe lesen Sie hier. Neben all den Verheerungen, die Gerhard Schröder nach dem Ende seiner Kanzlerzeit bis heute anrichtet, hat er zudem ein Amt inne, das es eigentlich nicht geben dürfte. Was soll das bitte sein, ein Altkanzler? Schröder kann davon nicht zurücktreten, das Amt haftet unwiderruflich an ihm, er kann nicht abgewählt oder abgesetzt werden, bleibt Kanzler bis zu seinem Tod. Es ist ein fast vordemokratisches Amt, gerade das macht es so aufschlussreich. Am Umgang mit ehemaligen Regierungschefs und Präsidenten lässt sich erkennen, dass Demokratien zur Macht und zu ihren Mächtigen gerade kein so nüchternes Verhältnis haben, wie sie es sich eigentlich vornehmen. In Monarchien ging noch alle Macht vom Körper des Monarchen aus. Wenn der starb, hatte die Monarchie ein Problem, weil mit ihm eigentlich der ganze Staat hätte untergehen müssen. Die Lösung sei gewesen, wie der Historiker Ernst Kantorowicz schrieb, den Körper des Königs zu verdoppeln: in einen leiblichen, der sterben kann, und einen ewigen, der durch die über Generationen gleichen Rituale und Symbole der Macht – Zepter, Thron, Reichsapfel – weiterlebt und auf den nächsten Leib übergehen kann. Die Erbfolge stellte die Kontinuität der Monarchie sicher, verkündet durch den über Jahrhunderte gleichen paradoxen Heroldsspruch: "Der König ist tot, es lebe der König!" Frank-Walter Steinmeier, ehemaliger Außenminister und Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten (SPD), wurde unterstützt von der großen Koalition seiner Partei mit Angela Merkels Konservativen, der Christlich Demokratischen Union (CDU). Demokratien sollten solchen Budenzauber danach eigentlich nicht mehr nötig haben. Die Aufklärung hatte die Welt ja gerade entzaubert, es regierten Vernunft und Verfahren. Die Macht geht jetzt vom Volk aus, Politikerinnen und Politiker werden von ihm per genau geregelter Wahl damit beauftragt, sie für einige Jahre stellvertretend auszuüben. Die Macht ist gerade nicht im Körper des Kanzlers begründet, sondern geht nur durch ihn hindurch. Der Kanzler (und jeder andere Politiker, jede andere Politikerin) ist der Bevölkerung zu Rechenschaft verpflichtet, die Macht kann ihm durch Wahlen genommen werden, sie erlischt nicht mit dem leiblichen Tod, sondern mit dem Ende der Amtszeit. Der französische Philosoph Claude Lefort erkannte in der Demokratie deshalb auch die "Entkörperung der Macht". Eigentlich müsste Schröder also, seit er 2005 mit seiner Abwahl seine Macht abgegeben hat, wieder ein Gleicher unter Gleichen sein, ein normaler Bürger. Warum ist er es nicht? Warum stellt die Demokratie ihm ebenso wie anderen Altkanzlern und ehemaligen Bundespräsidenten gut ausgestattete Büros (und Angestellte?) zur Verfügung und erwartet im Gegenzug, dass sie sich, was auch immer das heißt, angemessen verhalten? Weil Demokratien doch nicht so körperlos und nüchtern sind wie angenommen. Weil Schröder zwar seine formale Macht verloren hat, seine informelle, zwischenmenschliche aber nicht. Nur dank seiner persönlichen Kontakte und seiner Einflussmöglichkeiten als Altkanzler ist er für Wladimir Putin überhaupt ein wertvoller Lobbyist. Dass Schröder über Jahre regelmäßig Ministerinnen und Parteichefs zu gerade nicht privaten Mittagessen treffen konnte, beweist, dass er sich weder als normaler Bürger versteht noch als solcher behandelt wird. Das eine sind die konkreten zwischenmenschlichen Verbindungen, die Schröder im Amt geknüpft und in seine Ex-Kanzler-Zeit mitgenommen hat. Dutzende Sozialdemokraten, die heute das Land regieren, haben mal unter oder neben Schröder gearbeitet, er duzt sich mit amtierenden und ehemaligen Staatschefinnen anderer Länder. Diese Vorgeschichte, diese Erfahrungen verschwinden nicht mit dem Ende der Amtszeit, sondern sind tatsächlich an die Körper von Schröder und seinen Weggefährten gebunden. Aber das ist nicht alles. Das andere ist die Aura, die sich eben nicht allein aus dem Promistatus der Altkanzler oder der Altkanzlerin ergibt, sondern vor allem aus ihrer politischen Repräsentationsfunktion. Man stelle sich vor, man träfe Schröder oder Merkel an der Autobahnraststätte, auf dem Wochenmarkt, im Restaurant. Das demokratische Ideal wäre eigentlich, sie dann ohne Aufheben als einfache Mitbürger zu behandeln, als die Gleichen unter Gleichen, die sie formal wieder sind. Aber wahrscheinlicher ist, dass die meisten ihnen doch mit der respektvollen Vorsicht begegnen würden, die sich aus ihren längst abgelegten Ämtern ergibt. In unserem Blick auf Schröder lebt seine einstige Macht weiter. Der Politikwissenschaftler Philip Manow hat 2009 in seinem Essay Im Schatten des Königs nachgedacht über "Erinnerungsspuren, die die Monarchie in den Praktiken der Demokratie hinterlassen hat". Er führt beispielsweise die zwei bis drei baugleichen Limousinen an, mit denen US-Präsidenten reisen und bei denen unklar ist, in welcher der Präsident nun sitzt. Das Signal, schreibt Manow: Selbst wenn der Präsident getötet werden sollte, "gäbe es immer einen anderen Cadillac, der weiter seine Runden drehen würde", die Stellvertreter übernähmen, die Kontinuität der Macht bliebe gesichert. Das Bild der Wagenkolonne ist die demokratische Variante des monarchischen "Der König ist tot, es lebe der König!". Auch das Amt des Altkanzlers lasse sich als eine solche monarchische Erinnerungsspur deuten, als ein "Nachleben vordemokratischer Vorstellungen in der Demokratie", wie Manow schreibt. "Altkanzler" ist das Gefäß, in das Demokratien die ausrangierten, aber noch mit Macht kontaminierten Körper ihrer ehemaligen Herrscher einlagern, um deren metaphysische Strahlung zu kontrollieren. Deshalb ist letztlich nicht entscheidend, wie viele Mitarbeiter Schröder noch gestellt kriegt, sondern, ob er weiterhin als Altkanzler wahrgenommen wird oder lediglich als Putins Lobbyist. Eine solche Wahrnehmungsveränderung lässt sich aber nicht per Parlamentsmehrheit oder im Parteivorstand beschließen. Es geht, wie die Kollegin Tina Hildebrandt schreibt, eher um eine "Selbstaustreibung". Womit wir endgültig im Bereich der Geister und Mythen angekommen wären, aus dem die Aufklärung uns doch vor Jahrhunderten befreit haben soll. In seinem Buch stellt Philip Manow die These auf, Demokratien seien "neo-metaphysisch": Die Welt sei gar nicht entzaubert, denn "dem Prozess der Entzauberung der alten Ordnung, der mit der demokratischen Revolution einhergeht, ist der Prozess der Verzauberung der neuen demokratischen Ordnung komplementär". Das merkwürdige Amt des Altkanzlers wäre dann ein Zeichen, dass zumindest die gegenwärtige Demokratie neben ihrer selbst verschriebenen politischen Nüchternheit offenbar auch eine mythische Aufladung des Herrscherkörpers braucht. Damit sich die Volkssouveränität, das "Phantasma des einheitlichen demokratischen Körpers" (Manow), sinnlich manifestieren kann. Es wäre der Beweis, dass Politik noch immer eine verdammt körperliche Angelegenheit ist.