Sunday, April 3, 2022

Russland hat in der Schlacht um Kiew eine verheerende Niederlage erlitten

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Russland hat in der Schlacht um Kiew eine verheerende Niederlage erlitten Andreas Rüesch - Vor 6 Std. Was sich schon in der ersten Märzhälfte angedeutet hatte, ist Ende dieser Woche zur Gewissheit geworden: Russland hat sich bei seiner Offensive gegen die ukrainische Hauptstadt Kiew völlig verkalkuliert und vollzieht nun einen demütigenden Rückzug aus der Region. Kiew bleibt zwar weiterhin russischen Angriffen durch ballistische Raketen und Cruise-Missiles ausgesetzt. Aber die aus drei Richtungen erfolgte Bodenoperation zur Umzingelung der Hauptstadt hat sich als totaler Fehlschlag erwiesen. Fluchtartiger Rückzug Damit platzt – zumindest auf absehbare Zeit – auch die Hoffnung des Kremls, die ukrainische Staatsführung aus dieser Metropole zu vertreiben und zur Kapitulation zu zwingen. Bereits vor einer Woche hatte das russische Verteidigungsministerium Hinweise auf einen Strategiewechsel gegeben. Priorität habe nun die Eroberung der Donbass-Region im Osten des Landes. Darauf gab am Dienstag die russische Delegation bei den «Friedensverhandlungen» in Istanbul eine starke Verringerung der Kampfhandlungen im Raum Kiew bekannt. Was als «vertrauensbildende Massnahme» und damit als freundliche Geste bemäntelt war, dürfte allerdings der schieren Not entsprungen sein: Die russischen Truppen steckten seit Tagen fest, bekamen ihre logistischen Probleme nie in den Griff und sahen sich immer erfolgreicheren ukrainischen Gegenangriffen ausgesetzt. Am Mittwoch schienen die Russen noch das Ziel zu verfolgen, sich in ihren Stellungen zu verschanzen und Terrain zu verteidigen. Doch am Donnerstag und Freitag brachen ihre Verteidigungslinien reihenweise ein. Die Ukrainer konnten nach eigenen Angaben mehr als 70 Ortschaften zurückerobern. Konkret bedeutet dies, dass beispielsweise die wichtigen Verkehrsachsen von Kiew nach Westen und nach Nordosten wieder frei sind. Die Invasoren konnten am Freitag nordwestlich der Hauptstadt bis Iwankiw zurückgedrängt werden, also rund 80 Kilometer vom Regierungssitz entfernt. Am Samstag meldeten die ukrainischen Behörden schliesslich die vollständige Befreiung der Provinz Kiew, also des gesamten Gebiets bis zur weissrussischen Grenze. Die russischen Truppen haben auf ihrer Flucht auch das stillgelegte Kernkraftwerk Tschernobyl geräumt, so dass dort nun wieder ukrainische Sicherheitsleute die Kontrolle ausüben. Die kampflose Übergabe ist eine willkommene und keineswegs selbstverständliche Entwicklung, nachdem in den ersten Kriegswochen die Gefechte um Tschernobyl und das AKW Saporischja im Süden des Landes das Risiko einer nuklearen Verstrahlung heraufbeschworen hatten. Die Karte zeigt, wie weit die russische Offensive maximal vorangekommen war. Mitte März standen die Angreifer im Osten und Westen nahe am Stadtrand von Kiew, zudem drohte die Gefahr einer Einkreisung im Süden. Inzwischen befinden sich diese rosa markierten Gebiete wieder grossmehrheitlich unter ukrainischer Kontrolle. Horror im Vorort Butscha Die Lage in den befreiten Gebieten scheint vorerst weiterhin gefährlich. Laut Berichten leisteten am Freitag versprengte russische Einheiten nordwestlich von Kiew weiter Widerstand, zudem sind manche Ortschaften vermint. Videoaufnahmen aus einst blühenden Vororten wie Irpin, Butscha und Hostomel zeigen grauenhafte Zerstörungen und zum Teil Hinweise auf russische Kriegsverbrechen. Auf manchen Strassen liegen Leichen von Zivilisten; ein AFP-Reporter zählte auf einer einzigen Strasse in Butscha 20 Todesopfer. Allein in diesem Vorort wurden bis zum Samstag nach Angaben des dortigen Bürgermeisters 280 Getötete in einem Massengrab bestattet. Ob diese Personen von den Besetzern systematisch erschossen wurden, wie die ukrainische Seite sagt, wird zu untersuchen sein. Zugleich zeugen zahllose Wracks von russischen Panzern und Mannschaftswagen davon, welche Verheerungen die ukrainischen Verteidiger unter den russischen Truppen angerichtet haben. Diese konnten bei ihrem überstürzten Rückzug nicht einmal alle ihre Gefallen mitnehmen, wie Bilder aus der Region zeigen. Manche Einheiten sollen im Laufe des vergangenen Monats weitgehend aufgerieben worden sein, beispielsweise das 331. Fallschirmjäger-Regiment aus der zentralrussischen Stadt Kostroma. Solche Berichte lassen sich vorläufig nicht bestätigen, aber aus der Luft gegriffen sind sie nicht: Laut offiziellen russischen Todesanzeigen hat dieses Regiment seinen Kommandanten, dessen Stellvertreter, den Stabschef sowie ein halbes Dutzend weitere höhere Offiziere verloren. Das lässt darauf schliessen, dass diese als Elitetruppe gerühmte Einheit bei Kiew eine Katastrophe erlitten hat. Auch östlich der Hauptstadt wurden die Russen rasch zurückgedrängt. Die ukrainischen Streitkräfte stiessen entlang einer bisherigen russischen Versorgungsroute am Freitag bis Pohrebi vor, 100 Kilometer östlich der Hauptstadt. Auch die Verbindungsstrasse in die seit Wochen blockierte Provinzhauptstadt Tschernihiw ist nun wieder offen. Gemäss dem Kriegsplan hätten die russischen Truppen über diese Route von Nordosten her nach Kiew vorstossen sollen, aber dies gelang ihnen nie. Angesichts der Niederlage in der Schlacht um Kiew wirkt es konsequent, dass die Angreifer nun auch Truppen bei Tschernihiw abziehen. Das Kriegsgeschehen verlagert sich nun in den Osten der Ukraine. Die Verteidiger Mariupols werden sich wohl kaum noch lange halten. Bei einem Fall dieser Grossstadt werden dort russische Kräfte frei, die Moskau in anderen Teilen des Donbass einsetzen kann. Zudem hat Russland bereits erste Truppen aus Weissrussland zur Verstärkung der Donbass-Front nach Osten verlegt. Es handelt sich um Einheiten der 5. Armee, die bisher nicht ins Kampfgeschehen einbezogen waren. Schwerer vorstellbar ist dagegen, dass die aus dem Raum Kiew abgezogenen Truppen sofort in neue Gefechte geschickt werden können. Angesichts der erlittenen Verluste ist eine aufwendige Neuaufstellung nötig; auch die Kampfmoral dürfte gering sein. Aufschlussreich ist in dem Zusammenhang, dass Russland Truppen aus Georgien, Syrien und Kaliningrad in Richtung Ukraine verlegt. Das sind Indizien für die Personalnot, in die Moskaus Militärplaner geraten sind. Mit der Schwächung der Militärpräsenz in den russisch kontrollierten Teilen Georgiens geht der Kreml ein gewisses Risiko ein. Die Entblössung der Exklave Kaliningrad an der Ostsee ist zugleich ein klarer Beleg, dass Moskau trotz hitziger Rhetorik das Szenario eines Krieges mit der Nato für minimal hält. Tollkühner Luftangriff hinter den feindlichen Linien Priorität hat für den Kreml nun vermutlich, den Donbass und einen breiten Gebietsstreifen bis zur Krim vollständig zu erobern. So würde er über ein Faustpfand in den Friedensverhandlungen verfügen. Aber auch die Ukrainer können nun ihre Kräfte auf den Osten konzentrieren. Eine spektakuläre Militäraktion in der Nacht auf Freitag zeigt, dass sie auch hier den russischen Nachschub ins Visier nehmen. Mindestens zwei Mi-24-Kampfhelikopter stiessen auf russisches Gebiet vor und setzten mit Luft-Boden-Raketen ein Treibstofflager bei Belgorod in Brand. Das Feuer konnte bis zum Abend nicht gelöscht werden und scheint riesige Schäden anzurichten. Interessanterweise wollten sich die Behörden in Kiew nicht zu dem Angriff bekennen. Aber Videoaufnahmen belegen, dass es sich tatsächlich um einen Helikopterangriff handelte und nicht um einen Unfall. Die Helikopter flogen dabei sehr tief, wohl um dem feindlichen Radar zu entgehen. Aber auch so war der Angriff über eine Distanz von mindestens hundert Kilometern und tief in Feindesland eine überaus wagemutige Operation. Für Russlands Flugabwehr bedeutet sie eine weitere Blamage. Es ist das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass es einem militärischen Gegner gelingt, eine Kommandoaktion im europäischen Teil Russlands auszuführen.