Sunday, April 3, 2022
Hunderte Leichen in Vororten Kiews entdeckt: Russische Truppen richten beim Rückzug offenbar Massaker unter Zivilisten an
Hunderte Leichen in Vororten Kiews entdeckt: Russische Truppen richten beim Rückzug offenbar Massaker unter Zivilisten an
Vor 28 Min.
Russische Truppen ziehen aus der Region Kiew ab. In Butscha haben sie erschossene Zivilisten zurückgelassen. Manche sollen vermint sein.
Die ukrainische Armee hat nach Regierungsangaben die Region um die Hauptstadt Kiew wieder vollständig unter ihre Kontrolle gebracht. „Irpin, Butscha, Hostomel und die gesamte Region Kiew wurden vom Feind befreit“, schrieb Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maliar am Samstag auf Facebook.
Die russischen Truppen hatten sich bereits in den vergangenen Tagen aus den nordwestlich von Kiew gelegenen Vororten Irpin und Butscha zurückgezogen, nachdem ihr Versuch, die ukrainische Hauptstadt einzukesseln, gescheitert war. Die Vororte waren bei den wochenlangen Kämpfen zwischen der ukrainischen Armee und den russischen Truppen schwer beschädigt worden.
Massengräber für 280 Tote in Butscha
In Butscha entdeckten ukrainische Truppen nun Dutzende tote Zivilisten. Viele von ihnen seien von russischen Soldaten erschossen worden, twitterte der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak am Samstagabend. „Sie waren nicht beim Militär, sie hatten keine Waffen, sie stellten keine Bedrohung dar“, schrieb er. „Wie viele derartige Fälle ereignen sich gerade in den besetzten Gebieten?“
Auf einem Foto, das Podoljak in seinem Tweet teilte, waren erschossene Männer zu sehen, bei einem von ihnen waren die Hände auf dem Rücken gefesselt. Die Echtheit des Bildes konnte nicht unabhängig geprüft werden.
Laut ukrainischen Angaben sollen einige der Leichen von russischen Truppen vermint worden sein. Auch diese und weitere Berichte ukrainischer Medien über mutmaßliche Gräueltaten russischer Soldaten waren nicht unabhängig überprüfbar.
Präsidentensprecher Sergei Nikiforow sagte bei „BBC Sunday Morning“, die Szenen aus den vormals besetzten Gebieten wie Butscha seien „wirklich schwer zu beschreiben“. Es seien Massengräber entdeckt worden. „Wir haben Leichen mit gefesselten Händen und Beinen gefunden“, sagte Nikiforow. Sie hätten Einschusslöcher in den Hinterköpfen. „Es waren Zivilisten und sie wurden eindeutig hingerichtet“, sagte er weiter. Es seien auch halbverbrannte Leichen entdeckt worden. Es habe den Anschein, dass jemand seine Verbrechen kaschieren wollte, aber nicht genug Zeit dafür gehabt habe.
„Ich muss vorsichtig sein mit meinen Worten, aber es sieht nach Kriegsverbrechen aus“, sagte Nikiforow.
Nach dem Rückzug der russischen Armee aus Butscha mussten dort nach Angaben von Bürgermeister Anatoly Fedoruk 280 Menschen in Massengräbern beigesetzt werden, da die drei städtischen Friedhöfe noch in Reichweite des russischen Militärs lagen.
Die Straßen der Kleinstadt seien mit Leichen übersät, sagte Fedoruk der Nachrichtenagentur AFP. „In einigen Straßen sieht man 15 bis 20 Leichen auf dem Boden liegen“, sagte der Bürgermeister. Er könne aber nicht sagen, wie viele Tote es insgesamt nach den wochenlangen Kämpfen in Butscha gebe.
AFP-Journalisten in Butscha sahen in einer einzigen Straße mindestens 20 Leichen liegen. Die Kleinstadt wurde durch die russischen Angriffe verwüstet. Wohnhäuser wurden durch Granatenbeschuss beschädigt und auf den Straßen waren zerstörte Autos zu sehen.
EU-Ratspräsident Michel spricht von „Massaker“
Die EU will nach Angaben von Ratspräsident Charles Michel die Untersuchung von „Gräueltaten“ der russischen Armee in Vororten von Kiew unterstützen. Michel zeigte sich am Sonntag im Onlinedienst Twitter erschüttert über Bilder aus dem ukrainischen Ort Butscha und nutzte dabei einen Hashtag mit dem Bestandteil „Massaker“. Die EU werde bei der Sammlung der notwendigen Beweise für die Verfolgung vor internationalen Gerichten helfen, schrieb er.
Michel kündigte an, angesichts der erschütternden Bilder aus Butscha den wirtschaftlichen Druck auf Russland weiter erhöhen zu wollen. „Weitere EU-Sanktionen und Unterstützung (für die Ukraine) sind auf dem Weg“, schrieb er auf Twitter.
Auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko zeigte sich entsetzt. „Das, was in Butscha und anderen Vororten von Kiew passiert ist, kann man nur als Völkermord bezeichnen. Es sind grausame Kriegsverbrechen, die Putin dort zu verantworten hat. Zivilisten, die mit verbundenen Händen erschossen wurden“, sagte er der „Bild“-Zeitung.
Als Reaktion müsse es zwangsläufig klare Abgrenzung geben, so Klitschko: „Für die ganze Welt und insbesondere Deutschland kann es nur eine Konsequenz geben: Kein Cent darf mehr nach Russland gehen, das ist blutiges Geld, mit dem Menschen abgeschlachtet werden. Das Gas- und Ölembargo muss sofort kommen.“
Melnyk spricht von „Barbarei“
Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, appellierte angesichts der Gewalt gegen Zivilisten an die Bundesregierung, härter gegen Putin vorzugehen. Er teile ein verstörendes Video auf Twitter.
Dazu schrieb er: „Liebe Bundesregierung, werfen Sie mal einen Blick auf diesen schaurigen Schauplatz der Barbarei gegen die Menschen in der Ukraine. Ermordete Zivilisten liegen auf den Straßen. Kommt die einzig richtige Entscheidung über Gas,- & Öl-Embargo wieder zu spät? Schönen Samstag noch.“
Die ukrainische Regierung sprach am Samstag von einem „schnellen Rückzug“ der russischen Truppen im Norden des Landes. Sie erklärte zudem, Butscha sei befreit" worden.
Die Angreifer würden in den Regionen von Kiew und Tschernihiw zurückfallen, sagte Präsidentenberater Podoljak. Die russische Armee wolle sich nun nach Osten und Süden zurückziehen und dort die Kontrolle über große besetzte Gebiete behalten. (AFP, dpa)