Sunday, November 26, 2023
Grüne in Baden-Württemberg: Angst vor einem Dasein als Nischenpartei
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Grüne in Baden-Württemberg: Angst vor einem Dasein als Nischenpartei
von Rüdiger Soldt • 20 Mio.
Seit einem Jahr sind die Grünen in ihrem Stammland Baden-Württemberg in Umfragen nicht mehr stärkste Partei. Die nicht enden wollenden Probleme der Ampelregierung in Berlin, die Migrationskrise, das abrupte Koalitionsende in Hessen und nicht zuletzt die „Hauptgegner-Strategie“ der Union setzen auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann deutlich zu.
Die Reden auf dem CDU-Landesparteitag in Reutlingen klangen kürzlich schon, als ob die grün-schwarze Koalition bereits Geschichte wäre: Von einer „grünen Gurkentruppe“ war die Rede; der frühere Parlamentspräsident Guido Wolf dichtete: „Wer klebend auf der Straße hockt, hat sich die Zukunft selbst verbockt.“
Nicht als Volkspartei verankert
So nehmen denn die Realisten bei den Grünen derzeit an, dass für einen Sieg bei der Landtagswahl 2026 drei Voraussetzungen erfüllt sein müssten: eine substanzielle Begrenzung der irregulären Migration, ein Spitzenkandidat und Kretschmann-Nachfolger, der mit Amtsbonus den Wahlkampf führen könnte, sowie am besten zusätzlich ein wahlkampfbestimmendes ökologisches Großthema. Über die politische Stimmungslage im Frühjahr 2026 lassen sich zuverlässige Voraussagen allerdings kaum treffen, schon gar nicht in Zeiten von Polykrise und „Hyperpolitik“, dieser „eminent marktkonformen
Seit dem Machtwechsel 2011 ist es den Grünen zwar nicht im angestrebten Maße gelungen, sich im Land wie eine klassische Volkspartei zu verankern. Wenn sich die Partei aber dauerhaft zur Mitte öffnen will, braucht sie auch künftig einen Ministerpräsidenten im Südwesten.
Nachfolgefrage: Zu lange abgewartet
Das kretschmannsche Modell, pragmatisch zu regieren und mit permanenter Kritik an der eigenen Partei in die politische Mitte vorzudringen, haben sich Robert Habeck und Annalena Baerbock nur begrenzt zum Vorbild genommen. Auch programmatisch ist Kretschmanns ökolibertärer Ansatz ein Sonderfall geblieben. Zumal die Union Schwarz-Grün aus Furcht vor dem Erstarken der AfD zum Auslaufmodell abstempelt. In Stuttgart funktioniert die grün-schwarze Regierung weiterhin gut, auch wenn beim Bau von Windrädern, bei der Reform der Grundschulen oder beim Bürokratieabbau die Bilanz besser sein könnte und das Personalreservoir der Grünen weiterhin dünner ist als bei der CDU.
Bei der Lösung der Nachfolgefrage haben die Grünen zu ihrem Nachteil so lange abgewartet, bis die CDU Tatsachen schaffen konnte: Die Koalitionsvereinbarung sieht wie üblich vor, dass über das Personal die an der Regierung beteiligten Parteien bestimmen. Aber der gerade gewählte CDU-Landesvorsitzende Manuel Hagel stellte schon vor seiner Wahl klar: Die CDU wird, außer im Falle einer schweren Erkrankung Kretschmanns, einen Nachfolger nicht mitwählen. Außerdem arbeitete Hagel darauf hin, dass es eine Ampelkoalition in Stuttgart nicht geben wird – der FDP-Fraktionsvorsitzende Hans-Ulrich Rülke schließt sie im Einvernehmen mit Hagel aus. Den Grünen fehlt also jeder Hebel, um die CDU zur Wahl eines jüngeren Ministerpräsidenten zu zwingen. Hagel dagegen könnte sich zur Not mit den Stimmen von CDU, SPD und FDP zum Ministerpräsidenten wählen lassen.
Was plant die Parlamentspräsidentin?
Der Fraktionsvorsitzende Andreas Schwarz beschrieb die Stimmung in der Partei während des Bundesparteitags in Karlsruhe als „konzentriert und nicht aggressiv“. Es komme darauf an, den Bürgerwillen ernst zu nehmen, die „Politik des Gehörtwerdens“ sei eine Stärke der Grünen. In Fraktion und Partei ist der künftige Kurs unklar: Einen Fahrplan für die Ausrufung eines Nachfolgers gibt es nicht. Wann und ob Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir nach Stuttgart wechselt, obwohl die Aussichten auf einen Wahlsieg derzeit schlecht sind, ist unklar. In der Fraktion ist der Einfluss der Parteilinken, die sich eher auf Nischenthemen konzentrieren wollen, größer geworden.
Vonseiten der Realos wächst hingegen der Druck, die Nachfolgefrage zu lösen. Die erfolgreiche Wahl von Muhterem Aras für den Parteirat deuten einige als Hinweis auf ein künftiges bundespolitisches Engagement der Parlamentspräsidentin, die im Land nicht mehr viel werden kann. Aras und Özdemir könnten ihre Stuttgarter Wahlkreise (Landtag und Bundestag) tauschen, sodass Özdemir bei einer Niederlage eine Zukunft als Landtagsabgeordneter hätte.
„Organisiertes Hinhören“ als Erfolgsrezept
Die Realos halten einen Stimmungsumschwung zugunsten der Grünen in den nächsten zwei Jahren noch für möglich: Wenn die Wählerinnen und Wähler mitbekämen, dass auch die Grünen sich um eine Begrenzung des Flüchtlingszuzugs kümmerten, und sie zugleich ihre Rolle bei der Transformation der Wirtschaft betonten, könne sich die Stimmung noch drehen.
In Karlsruhe feierten die Delegierten Kretschmanns Rede erwartungsgemäß weniger als die von Ricarda Lang, auch wenn der Ministerpräsident immer noch und jetzt erst recht der erfolgreichste grüne Regierungspolitiker ist. Kretschmann gibt die Linie vor, mit der seine Partei wieder stärker werden soll: Er empfahl ein „organisiertes Hinhören“ in die Bevölkerung. In der Flüchtlingspolitik sei man mit den Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz und der „Gemeinsamen Europäischen Asylpolitik“ auf dem „richtigen Weg“, der Realitätscheck stehe noch aus, seine Partei müsse „Humanität und Ordnung“ in Einklang bringen. „Wir müssen in den entscheidenden Fragen Handlungsfähigkeit beweisen“, sagte Kretschmann. Wenn man sich in Europa umschaue, könne das nur „ein Bündnis der Demokraten“ tun.