Sunday, November 26, 2023

Neuköllns Bürgermeister Martin Hikel: „Offenheit für Antisemitismus in der arabischen Community größer“

Berliner Zeitung Neuköllns Bürgermeister Martin Hikel: „Offenheit für Antisemitismus in der arabischen Community größer“ von Nathan Giwerzew • 4 Std. Martin Hikel (SPD) ist seit 2018 Bezirksbürgermeister von Neukölln. Es muss „Einfluss auf das Asylverfahren von Flüchtlingen haben“, wenn diese „auf Demonstrationen antisemitischen Hass säen“, sagt er. Seit dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel ist vor allem der Name eines Berliner Bezirks in den Nachrichten zu lesen, wenn es um antisemitische Kundgebungen geht: Neukölln. Hier verteilte die inzwischen verbotene linksextreme palästinensische Organisation „Samidoun“ am 7. Oktober Süßigkeiten – aus Freude über 1200 ermordete und 240 entführte Menschen aus Israel. Seit Jahren gilt Neukölln als „No-Go-Area“ für Juden, die ihre Kippa offen tragen wollen. Wie blickt der Neuköllner Bürgermeister Martin Hikel (SPD) auf das Antisemitismus-Problem in seinem Bezirk? Im Interview mit dem Monatsmagazin Cicero wählt er seine Worte mit Bedacht – wird aber an einigen Stellen auch ungewohnt deutlich. „Die Offenheit für Antisemitismus“ sei „in der arabischen Community größer“, sagt Hikel, weil ihr Weltbild „oftmals durch arabischsprachige Medien“ geprägt sei. Insofern hätten ihn die Freudenbekundungen angesichts der ermordeten und entführten Israelis nicht überrascht: „Das war traurigerweise erwartbar und ist auch genauso eingetreten.“ Gleichzeitig kritisiert Hikel das Schweigen der Zivilgesellschaft zum brutalen Terrorangriff der Hamas auf Israel. Die „arabischen Antisemiten“ könnten nur deshalb jetzt so laut sein, „weil die Zivilgesellschaft in den letzten Wochen derart leise war“, so der SPD-Lokalpolitiker. Arabischer Antisemitismus sei „aus falscher Toleranz zu lange verharmlost“ worden, sagt Hikel. So habe er nach dem 7. Oktober habe auch „die großen Solidaritätsdemos der deutschen Bevölkerung“ vermisst. Der Grund? Große Teile des „linksintellektuellen Milieus“ haben ihm zufolge ein „indifferentes Verhältnis zu Israel“. Bei „anderen Gelegenheiten“ wie ‚Black Lives Matter‘ oder dem Ukraine-Krieg seien zehntausende Menschen auf die Straße gegangen. Es seien „Bio-Deutsche“, die vor dem Auswärtigen Amt „Free Palestine From German Guilt“ geschrien hätten. Martin Hikel äußert sich im Interview auch zum Antisemitismus-Problem an Neuköllner Schulen. Antisemitismus an Schulen sei in Neukölln „rückläufig“, sagt er, wenngleich es in den letzten Wochen „einen sehr unangenehmen Vorfall“ gegeben habe. Den Namen der Schule erwähnt er zwar nicht, doch es ist offensichtlich, dass er eine gewalttätige Auseinandersetzung am Ernst-Abbe-Gymnasium am 9. Oktober meint. „Einzelne Schüler haben auf ihrem Schulhof demonstrativ und teilweise vermummt Palästinafahnen geschwenkt“, erzählt er. „Als ein Lehrer intervenierte und die Schüler aufforderte, die Fahnen runterzunehmen, ist es zu einem tätlichen Konflikt ausgeartet.“ Nun werde gegen beide ermittelt. Der Vorfall zeige, wie sehr der Nahostkonflikt „an unseren Schulen“ angekommen sei. Hikel sagt, jetzt sei es „wichtig, dass unsere Lehrkräfte mit den Schülern über das hochemotionalisierte Thema intensiv diskutieren und dabei klare Grenzen aufzeigen“. Und er berichtet: Bei einer Diskussion mit Schülern seien ihm „Dinge um die Ohren geflogen“, die ihn „fassungslos“ gemacht hätten. Um welche Diskussion mit Schülern es sich handelte, lässt Hikel offen. Zuletzt berichtete das Nachrichtenportal Apollo News über eine Diskussionsveranstaltung an der Anne-Frank-Schule am 9. November, an der auch Hikel teilgenommen hatte. Das Thema: Antisemitismus an Schulen. Dort sei es zu israelfeindlichen Zwischenrufen gekommen, berichtete das Medium. Wie wirksam staatliche Projekte wie „Demokratie leben“ gegen Antisemitismus sind? Das will Hikel zumindest „mittelbar“ prüfen lassen. Gleichzeitig sagt er, „Projekte gegen Antisemitismus und Israelhass an den Schulen und in Vereinen“ müssten gestärkt werden. Zudem müssten die Sicherheitsbehörden „so ausgestattet und geschult werden, dass sie bei antisemitischen Parolen unmissverständlich einschreiten“, fordert Hikel. Hikel äußert sich auch zur Migrations- und Integrationsdebatte. Man habe darin „versagt“, gegenüber Flüchtlingen „klare Werte“ wie das Bekenntnis zu Israels Existenzrecht einzufordern, sagt er. Diese „Wertevermittlung“ müsse man stärker forcieren. Derzeit seien jedoch die Kommunen an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Nur angesichts leistungsfähiger Kommunen könne man überhaupt von Integrationspolitik sprechen, mahnt er. Hikel fordert zudem, es müsse „Einfluss auf das Asylverfahren von Flüchtlingen haben“, wenn diese „auf Demonstrationen antisemitischen Hass säen“. Im Zweifel sei auch eine Abschiebung die richtige „Entscheidung“. Der Hintergrund: Einem der führenden Aktivisten von Samidoun, Zaid Abdulnasser, droht seit dem September die Ausweisung. Er ist palästinensischstämmiger Syrer. Diverse linke Organisationen hatten zu Solidarität mit Abdulnasser aufgerufen – auch die „Rote Hilfe“, die sich nach dem 7. Oktober von ihm distanzierte. Doch auch islamistische Strukturen hat Hikel auf dem Schirm. So sei dem Bezirk schon seit längerem bekannt, dass in Läden gesammelte Spendengelder „später an die Hamas oder die Hisbollah transferiert werden“. Zudem wisse man „über die Verzahnung von libanesischen Clanmitgliedern und Organisationen wie der Hamas oder der Hisbollah“. Hikel erklärt: „In Deutschland umgesetztes Geld der Clanstrukturen wird als Spende in die entsprechenden Gebiete gesendet.“ Er fordert zudem, die Zusammenarbeit mit radikalen Islamverbänden wie Millî Görüş oder Ditib einzustellen und Strukturen für liberale Muslime zu etablieren, die „80 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime“ ausmachten. Hikels Antwort auf die Frage, ob er die Sicherheit von Juden in seinem Bezirk garantieren könne, bleibt dagegen vage. Er könne alle Juden verstehen, die „Vorbehalte haben und nicht mit dem Davidstern über die Sonnenallee laufen möchten“, so Hikel. Leider würde man immer wieder die Erfahrung machen, dass es „Übergriffe auf hebräischsprachige und sichtbar jüdische Menschen“ in seinem Bezirk gäbe. Zugleich wehrt sich Hikel dagegen, dass sein Bezirk stellvertretend für das Antisemitismus-Problem in Deutschland genannt werde. „Ausschließlich Neukölln als bundesweites Synonym für problematische Entwicklungen zu nennen, wird der Realität daher nicht gerecht“, warnt der SPD-Lokalpolitiker. Ähnliche Konflikte wie in Neukölln – sei es „bei Integrationsfragen, bei gescheiterten Bildungsbiografien“ oder „beim Thema Antisemitismus“ – gäbe es inzwischen in jeder deutschen Großstadt. Zudem sei Neukölln „nicht nur die Sonnenallee“, sondern ein großer Bezirk, „in dem 330.000 Menschen größtenteils sehr friedlich miteinander leben“.