Tuesday, November 28, 2023
Migration in Afrika: Niger öffnet wichtige Route zum Mittelmeer
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Migration in Afrika: Niger öffnet wichtige Route zum Mittelmeer
Artikel von Claudia Bröll •
13 Std.
Migranten aus Niger in einer Aufnahmeeinrichtung in der libyschen Hauptstadt Tripolis im August
Für Mohamed Anacko ist es die beste Nachricht seit Langem gewesen. In Agadez, einer Wüstenstadt im Norden Nigers, sei wieder ein „Lächeln auf den Gesichtern“ zu sehen. Vor allem auf den Gesichtern der Jugendlichen, die lange Zeit arbeitslos gewesen seien, ließ der Vorsitzende des Regionalrats von Agadez am Montag mitteilen. Grund der Begeisterung ist die Entscheidung, ein Gesetz aus dem Jahr 2015 auszusetzen, das die Flüchtlingsströme aus Westafrika nach Europa eindämmen sollte. Insbesondere die Europäische Union (EU) hatte sich dafür eingesetzt. Nigers Übergangspräsident, General Abdourahmane Tchiani, hat das sogenannte „Gesetz 36-2015“, das Menschenschmuggel unter Strafe stellt, unlängst außer Kraft gesetzt. Faktisch hat die neue Führung in Niger, die sich im Juli an die Macht putschte, damit eine der Hauptmigrationsrouten zum Mittelmeer wieder geöffnet.
Der Schritt wurde von einigen Beobachtern als Reaktion auf die Weigerung der EU gesehen, die neue Regierung in Niger anzuerkennen. Wenige Tage zuvor hatte das EU-Parlament den Putsch abermals „aufs Schärfste“ verurteilt und die sofortige Freilassung und Wiedereinsetzung des demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Bazoum gefordert. Außerdem forderten die Abgeordneten Sanktionen gegen die neue Führung.
Agadez ist einer der letzten Orte für Flüchtlinge, bevor sie sich auf den gefährlichen Weg durch die Sahara nach Libyen und Algerien begeben. Bazoum hatte damals als Innenminister das bis dahin nur halbherzig angewandte Gesetz mit äußerster Strenge umgesetzt. Staatsangehörige aus dem Senegal, der Elfenbeinküste, Mali oder Nigeria waren bei ihren Versuchen, mit dem Bus von Niamey nach Agadez zu gelangen, plötzlich administrativen Schikanen ausgesetzt, die meist im Widerspruch zu den Regeln der Freizügigkeit innerhalb der Wirtschaftsgemeinschaft der westafrikanischen Staaten (ECOWAS) standen.
Bis 2020 gab Brüssel eine Milliarde Euro
Niger erhielt im Gegenzug Finanzhilfen, um gegen die Schleuserwirtschaft, die zuvor eine gut funktionierende Infrastruktur in Agadez aufgebaut hatte, vorzugehen und die Grenzen besser zu sichern. Allein bis zum Jahr 2020 unterstützte die EU das Land mit einer Milliarde Euro. Zudem wurden „Migrationspartnerschaften“ zwischen der EU und Niger geknüpft, die Internationale Organisation für Migration eröffnete in der Hauptstadt Niamey ein großes Auffanglager und ein Informationszentrum. Die nigrischen Behörden hatten damals geschätzt, dass 2016 zwischen 120.000 und 150.000 Menschen durch Niger reisen würden. Tatsächlich ist die Zahl der Migranten auf dieser Route seitdem gesunken. Allerdings haben sich viele Aktivitäten der Schleuser wohl in den Untergrund verlagert.
Die Region Agadez habe seit der Anwendung des „Antimigrationsgesetzes“ immer wieder dessen negative Auswirkungen erlebt, teilte der Regionalrat von Agadez weiter mit. Man habe viele Bedenken an die damaligen Behörden herangetragen, doch leider sei nichts unternommen worden, auch Bemühungen der Zivilgesellschaft seien erfolglos geblieben. „Und währenddessen verschlechterte sich die lokale Wirtschaft in Agadez, die stark mit der Migration verbunden war.“
In den sozialen Medien befürworteten viele Nigrer die Entscheidung. Die europäischen Staaten, die das Gesetz durchgesetzt hätten, sähen nur ihre eigenen Interessen, schrieb einer. Ein anderer fügte hinzu, die vorigen Präsidenten Mahamadou Issoufou und später Mohamed Bazoum hätten sich „wie kleine Handlanger“ Europas verhalten und den wirtschaftlichen Interessen der Nigrer – vor allem der Jugend in Agadez – geschadet. Der gestürzte nigrische Präsident, der als Verbündeter Frankreichs und anderer westlicher Staaten in der Sahelregion galt, befindet sich seit dem Putsch mit seiner Familie in Gefangenschaft.