Tuesday, November 28, 2023
Russland als große Gefahr? Die überraschende Naivität der Deutschen
WELT
Russland als große Gefahr? Die überraschende Naivität der Deutschen
Artikel von Stefanie Bolzen •
Seit fast zwei Jahren führt Moskau Krieg in der Ukraine, nur wenige hundert Kilometer von Deutschland entfernt. Trotzdem schätzen die Deutschen die Gefahr, die von Russland ausgeht, als viel geringer ein als die Amerikaner. Und auch bei einer anderen Großmacht sind sie überraschend entspannt.
Zwischen Washington und Moskau liegen 7816 Kilometer, zwischen Berlin und der russischen Hauptstadt sind es nur 1608 Kilometer. Und seit Februar 2022 beweist Wladimir Putin in der Ukraine in erschreckendem Ausmaß, wozu er fähig ist, um seine Interessen durchzusetzen. Trotzdem sehen die Deutschen Russland in weitaus geringerem Maß als eine große militärische Gefahr als es die US-Bürger tun.
Aus einer am Montag veröffentlichten Umfrage des Pew Research Centers und der Körber-Stiftung geht hervor, dass 36 Prozent der Deutschen Russland als große militärische Bedrohung einschätzen. In den USA sind es hingegen 68 Prozent. Die repräsentative Studie wurde im September durchgeführt. 21 Prozent der Befragten in Deutschland halten Russland sogar für gar keine Bedrohung, in den USA sind es nur fünf Prozent.
Seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs hat das Bewusstsein, dass von Moskau eine Gefahr ausgeht, in Deutschland aber zugenommen. In diesem Jahr nahmen 76 Prozent der Deutschen Russland als Bedrohung wahr, 2022 waren es noch 72 Prozent. Der Wert umfasst die beiden Klassifizierungen „große Bedrohung“ und „geringe Bedrohung“ („major/minor military threat“).
Deutschland ist inzwischen auch der weltweit zweitgrößte Geber von Militärhilfen an die Ukraine. Die USA haben Kiew seit Kriegsbeginn aber mehr als das Doppelte an Waffen und Waffensystemen zur Verfügung gestellt. Derzeit hängen neu zu genehmigende Gelder allerdings im US-Kongress fest.
Grund ist die Blockade durch den rechten Flügel der Republikaner im Repräsentantenhaus, der ein von US-Präsident Joe Biden beantragtes Gesamtpaket in Höhe von umgerechnet 100 Milliarden Euro nicht unterstützt. Knapp 60 Milliarden Euro sollen an Kiew gehen als langfristige Unterstützung, der Rest der Gelder ist für Israel bestimmt, sowie für die militärische Sicherheit im Indopazifik und für die Abschottung der US-Grenze nach Mexiko.
Das amerikanische Verteidigungsministerium und der Nationale Sicherheitsrat erklärten jüngst, dass die Lieferungen an die Ukraine bereits rationiert werden müssten. Bei seinem letzten Besuch in Washington Mitte September hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gewarnt, dass sein Land den Krieg gegen Russland ohne fortgesetzte umfassende Hilfe der USA zu verlieren drohe.
Deutsche schätzen Chinas militärische Gefahr als eher gering ein
Unterschiedlich bewerten Deutsche und Amerikaner in der Umfrage auch die Bedeutung von China. 70 Prozent der US-Bürger meinen, dass China eine große militärische Bedrohung darstellt. 70 Prozent sehen das Land zudem als eine wirtschaftliche Gefahr.
Mit letzterer Aussage stimmen die Deutschen eher überein als in der Einschätzung einer potenziellen militärischen Bedrohung. Nur 13 Prozent der Bundesbürger meinen, dass von Peking eine große militärische Gefahr ausgeht. 49 Prozent stimmen allerdings der Aussage zu, dass Chinas Wirtschaftsmacht gefährlich werden kann.
Bei der Antwort auf die Frage, ob ein Aufstieg Chinas Richtung Weltmacht eine gute Sache ist, gibt es keine so großen Unterschiede zwischen Amerikanern und Deutschen. 71 Prozent der US-Bürger stufen diese Entwicklung als „eher schlecht“ ein, 62 Prozent der Deutschen tun dies ebenfalls.
Differenzieren lässt sich indes mit Blick auf einzelne Wählergruppen. So sehen US-Republikaner Chinas Aufstieg kritischer als die Demokraten (82 zu 70 Prozent). Hierzulande beurteilen Wähler der Alternative für Deutschland (AfD) Chinas Rolle wesentlich weniger kritisch. 42 Prozent halten diese für schlecht, 19 Prozent halten sie für gut.
Die USA als wichtigster deutscher Partner
Generell hat sich das Verhältnis zwischen den USA und Deutschland seit der Amtsübernahme des Demokraten Joe Biden stetig verbessert. 43 Prozent der Deutschen halten die USA für den wichtigsten Partner ihres Landes. Das sind sieben Prozentpunkte mehr als bei der Befragung vor einem Jahr.
77 Prozent der Deutschen bewerten die Beziehungen zu den USA als eher gut bis sehr gut. Bei einer parallelen Befragung in den USA bewerteten sogar 85 Prozent der US-Bürger das amerikanisch-deutsche Verhältnis als sehr positiv.
Die Deutschen differenzieren ihre Bewertungen allerdings je nach Politikfeld sehr deutlich. So werden die USA beim Umgang mit dem Krieg in der Ukraine von 69 Prozent der Befragten als wichtigster Partner angesehen, beim Klimaschutz dagegen nur von 29 Prozent.
Die USA sind für 43 Prozent der Deutschen der wichtigste außenpolitische Partner, womit Bidens Regierung klar an der Spitze liegt. 26 Prozent der Bundesbürger sehen Frankreich als wichtigsten Partner auf der Weltbühne.
Deutschland beurteilen hingegen nur sechs Prozent der US-Bürger als wichtigsten außenpolitischen Partner. Auf dem Spitzenplatz der Amerikaner rangiert Großbritannien mit 25 Prozent, gefolgt von China mit elf Prozent. Der Anspruch der Regierung von Olaf Scholz, Deutschland zu einer Führungsmacht in Europa zu machen, ist jenseits des Atlantiks noch nicht ganz angekommen.