Monday, November 27, 2023

Niger lässt die Migranten wieder passieren und stösst damit die EU vor den Kopf

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Niger lässt die Migranten wieder passieren und stösst damit die EU vor den Kopf von Christian Putsch, Kapstadt • 1 Std. MÄRKTE HEUTE Es ist eine lange und gefährliche Fahrt, die von Agadez aus Tausende von Kilometern ;lang durch die Wüste ans Mittelmeer führt. Der Chef der Putschregierung in Niger, General Abdourahamane Tchiani, reiste im Oktober in die Wüstenstadt Agadez. Es war eine heikle Mission. Denn der von den Militärs gestürzte Präsident Mohamed Bazoum entstammt der winzigen arabischen Ethnie der Ouled Slimane, die in Agadez gute Beziehungen zur dort mächtigen Ethnie der Tuareg pflegt. Entsprechend kritisch wird der Militärputsch von Ende Juli in Agadez gesehen. Doch Tchiani hatte ein wichtiges Zugeständnis im Gepäck. Er stellte den Tuareg in Aussicht, ein Gesetz auszuhebeln, das in Agadez für enormen Unmut sorgt. Seit 2015 gilt in Niger die «Loi 36» zur Strafbarkeit von Schleppertätigkeit und Menschenhandel. Schleppern drohen demnach bis zu 30 Jahre Haft. Dank von der EU finanzierten Patrouillen wurde das Gesetz seither rigoros angewendet. Agadez gilt als das «Tor zur Sahara», von wo aus die Flüchtlinge die riesige, gefährliche Wüste durchquerten, um über Libyen oder Algerien das Mittelmeer zu erreichen. Schlepper und andere verloren ihre lukrative Arbeit Der Wüstenstaat Niger war zu einem der wichtigsten Partnerländer der EU bei der Eindämmung der Migration geworden. Die Zahl der durchreisenden Migranten und Flüchtlinge in Richtung Libyen und dann Europa sank zunächst massiv, von 300 000 im Jahr 2016 auf zuletzt unter 50 000 jährlich. Es war eine zumindest für Europa und die nigrische Regierung erfolgreiche Geschäftsbeziehung. Doch wegen der von der EU finanzierten Patrouillen verloren in Niger nach Angaben regionaler Medien 5000 Menschen ihre oft einträgliche Arbeit. Neben den Drahtziehern der illegalen Migration traf es auch die Schlepper, Lastwagenfahrer, Gastwirte und Ladenbesitzer. EU-Programme zur Schaffung alternativer Arbeitsplätze blieben hinter den hohen Erwartungen der lokalen Bevölkerung zurück. Ausserdem kamen die Milliardenzahlungen der EU an Niger kaum in der Peripherie, zum Beispiel in Agadez, an. Entsprechend hatten die Tuareg, die als Wüstenvolk traditionell einer der Hauptakteure im Migrationsgewerbe sind, bei Tchianis Besuch die Herausgabe inhaftierter Schlepper und beschlagnahmter Fahrzeuge gefordert. Genugtuung bei den Tuareg in Agadez Am vergangenen Donnerstag erfüllte der Putschführer den Wunsch der Tuareg und unterschrieb ein Dekret, mit dem das Anti-Schlepper-Gesetz ausser Kraft gesetzt wird. In Agadez zeigte man sich zufrieden: «Wir begrüssen das im Namen unserer Bevölkerung», sagte Mohamed Anacko, Präsident des Regionalrats von Agadez, am Sonntag. Die «Loi 36» habe negative Auswirkungen auf das Leben der Menschen gehabt. Er beglückwünsche die Regierung zu ihrer Entscheidung, so Anacko. Auch Ibrahima Hamidou, der Sprecher des von den Militärs eingesetzten Ministerpräsidenten Ali Lamine Zeine, frohlockte auf Facebook: «Gute Nachrichten für alle, die nach dem 2015 verabschiedeten Gesetz ins Gefängnis mussten, weil der Transport von Migranten kriminalisiert wurde. Dieses Gesetz wurde aufgehoben. Die EU soll ruhig weiter rumgestikulieren!» Rechtlich war das Gesetz seit seinem Beschluss fragwürdig. Die Migranten wurden damit schon Hunderte Kilometer vor der libyschen Grenze abgefangen, obwohl für sie innerhalb der Staaten der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas) Bewegungsfreiheit gilt. Entsprechende Einwände spielten aber bei den zahlreichen Treffen hoher europäischer und nigrischer Politiker in den vergangenen Jahre keine Rolle. Nigers Wirtschaft kurz vor dem Kollaps Die EU hat ihre Zahlungen nach dem Putsch eingestellt und befürwortet die harten Sanktionen, mit denen die in der Ecowas vereinten Nachbarstaaten Niger bestrafen. Das mächtige Nigeria, das zuerst auf einen Einmarsch von Ecowas-Truppen drängte, stellte seine Stromlieferungen ein. Wegen der teilweise weiterhin geschlossenen Grenzen kommen Waren nicht wie bislang über Benin ins Land, sondern über Togo und Burkina Faso. Der Umweg und die Kosten für Sicherheitseskorten auf von Terroristen bedrohten Strassen treiben die Preise für die Waren in die Höhe. Das Grundnahrungsmittel Reis etwa ist seit dem Putsch um rund ein Drittel teurer geworden. Einzig die Tatsache, dass Niger über Erdöl und Raffinerien für die eigene Benzinproduktion verfügt, rettet das bettelarme Land vor dem Kollaps. Widerstand der nigrischen Bevölkerung gegen die Aussetzung des Schleppergesetzes sind nicht zu erwarten. «Die Militärjunta profitiert vom allgemeinen Hass auf die ehemalige Kolonialmacht Frankreich, da er von innenpolitischen Problemen und Streitigkeiten zwischen den Stämmen, Völkern und Regionen ablenkt», sagt der Westafrika-Repräsentant der deutschen Hanns-Seidel-Stiftung, Götz Heinicke. Das gemeinsame Feindbild Europa stärke das Nationalbewusstsein und den Zusammenhalt der Nigrer.