Wednesday, November 1, 2023
„Faeser und Scholz schlagen einen gefährlichen Kurs ein“
WELT
„Faeser und Scholz schlagen einen gefährlichen Kurs ein“
Artikel von Hannah Bethke •
1 Std.
Juso-Vizechefin Sarah Mohamed hält die geplante Abschiebeoffensive von Kanzler Scholz und Innenministerin Faeser für populistisch und „rassistisch“. Den grassierenden Judenhass dürfe man nicht als alleiniges Problem der Muslime abtun. Auch Linke müssten sich ihrem Antisemitismus-Problem stellen.
Juso-Vizevorsitzende Sarah Mohamed, 31, kandidiert für den Vorsitz der SPD-Jugendorganisation, der im November neu gewählt wird Marlene Gawrisch
WELT: Frau Mohamed, die Jusos haben die Ankündigung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), konsequenter Abschiebungen durchzuführen, scharf kritisiert. Die Parteispitze trägt den Kurs des Kanzlers dagegen mit. Versteht die SPD die Jungen in der Partei nicht mehr?
Sarah Mohamed: Ich traue der Parteispitze schon zu, dass sie unsere Kritik versteht. Aber die SPD gibt dem rechten Druck nach, den sie in Teilen der Gesellschaft spürt. Es gibt ja gerade eine sehr aufgeheizte, populistische Stimmung gegenüber Geflüchteten in Deutschland.
WELT: Aus Ihrer Sicht agiert die SPD also populistisch?
Mohamed: Scholz folgt zumindest einer sehr populistischen Argumentation. Das ist keine sozialdemokratische Position, in der Frage von Geflüchteten so viel Härte zu zeigen. Schnellere Abschiebungen helfen den Kommunen auch gar nicht.
WELT: Warum nicht?
Mohamed: Es gibt nur sehr wenige unter den Geflüchteten, die wirklich ausreisepflichtig und ohne Duldung sind. Da geht es gerade einmal um etwa 0,1 Prozent der Bevölkerung in Deutschland. An der Überlastung der Kommunen würde das nichts ändern.
WELT: Die Kommunen warnen seit Monaten, sie könnten nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen. Die Kapazitäten seien erschöpft, die Infrastruktur reiche nicht aus. Das sagen übrigens auch Sozialdemokraten. Wie wollen Sie diese Probleme lösen?
Mohamed: Die Kommunen müssen mehr finanzielle Unterstützung von Bund und Ländern bekommen. Das Problem ist ja viel größer und hat nicht nur mit Geflüchteten zu tun. Ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen. Dort sind Kommunen einfach komplett am Ende und stehen kurz vor der Pleite. Da ist es nicht mehr möglich, irgendeine Daseinsvorsorge zu regeln. Man muss außerdem darüber sprechen, wie man die Geflüchteten verteilt. Und das Beschäftigungsverbot für Geflüchtete muss aufgehoben werden. Es muss darum gehen, sie schneller zu integrieren.
WELT: Seit den Angriffen der Hamas gegen Israel häufen sich auch hierzulande antisemitische Übergriffe und Anfeindungen von muslimischer Seite. Können Sie nachvollziehen, dass der Ruf nach Abschiebungen vor diesem Hintergrund lauter wird?
Mohamed: Nein, das kann ich nicht nachvollziehen. Ich möchte überhaupt nicht kleinreden, dass es in muslimisch geprägten Communitys ein Problem mit Antisemitismus gibt. Aber gerade in diesem Land sollten wir genauso wenig den Antisemitismus in der Gesamtbevölkerung negieren. Antisemitische Ressentiments gibt es nicht nur bei Rechten, sie wirken bis in die Mitte der Gesellschaft hinein.
Bei Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft, mit oder ohne Migrationshintergrund, müssen wir deshalb über Bildung und nicht über Abschiebung sprechen. Man kann den Antisemitismus nicht einfach als Problem der Muslime oder der Geflüchteten abtun und die Verantwortung abschieben.
WELT: Teilen Sie denn die Kritik, dass dieser sogenannte importiere Antisemitismus auf muslimischer Seite in Deutschland zu lange tabuisiert wurde? Man kann dieses Thema ja kaum ansprechen, ohne sich den Vorwurf des Rassismus einzuhandeln.
Mohamed: Ich finde den Begriff des importierten Antisemitismus irreführend. Antisemitismus hat in Deutschland eine lange Tradition und muss daher gar nicht „von außen“ kommen. Viele Migranten, denen man das zuschreibt, sind hier in Deutschland geboren und aufgewachsen, das haben die nicht einfach von außen mitgebracht, das ist auch Teil der deutschen Gesellschaft.
WELT: Wenn man sich dieser Tage die Szenen in Berlin-Neukölln anschaut, bietet sich ein anderes Bild: eine muslimische Community, die den Angriff der Hamas gegen Israel feiert, propalästinensische Aufmärsche, bei denen offen antisemitische und israelfeindliche Parolen skandiert werden. Ist die Integration muslimischer Migranten in Deutschland gescheitert?
Mohamed: Nein. Wir müssen bei den jungen Menschen ansetzen, die da auf die Straße gehen, und dafür sorgen, dass sie, anstatt Propaganda und Aufhetzung zu betreiben, einen antisemitismuskritischen Zugang zum Konflikt finden. Wir müssen mehr über aktuelle Formen des Antisemitismus sprechen. Wenn ich an meine eigene Schulzeit denke, hat der Antisemitismus im Unterricht jenseits des Nationalsozialismus überhaupt keine Rolle gespielt. Das muss sich ändern. Jedem muss klar sein, dass Antisemitismus nicht nur eine Sache in der Vergangenheit ist, sondern auch heute noch existiert.
WELT: Vor Kurzem haben die Jusos sich von der Fatah-Jugend getrennt, die zur Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) gehört. Kommt dieser Schritt nicht etwas spät? Es ist schon lange bekannt, dass die Organisation antiisraelisch ausgerichtet ist und eine Distanzierung zur Hamas vermissen lässt.
Mohamed: Es gab immer Regeln, auf die wir im Rahmen der Verständigung im Willy-Brandt-Center (1996 auf Initiative der Jusos gegründetes Begegnungszentrum in Jerusalem, d. Red.) bestanden haben. Dazu gehört die konsequente Verurteilung von Terror und Gewalt durch die Hamas. Das Existenzrecht Israels darf nicht infrage gestellt werden. Die Fatah hat diese roten Linien überschritten, deshalb ist eine Zusammenarbeit nicht mehr möglich. Ursprünglich hatte die Idee, miteinander in den Trialog zu treten, aber einen hohen Wert.
„Ich erwarte, dass die Klimabewegung aufarbeitet, inwieweit in ihren eigenen Strukturen Antisemitismus verbreitet ist“
WELT: Auch die internationale Bewegung Fridays for Future verbreitet seit Tagen offen antisemitische Propaganda. Sie haben immer wieder für die Anliegen von Klimaaktivisten geworben. Werden Sie sich jetzt davon distanzieren?
Mohamed: Ich distanziere mich von den antisemitischen Äußerungen auf den Kanälen der internationalen Bewegung Fridays for Future. Der deutsche Ableger hat sich mit Luisa Neubauer ja bereits sehr deutlich distanziert. Das ist aber kein zentral organisierter Verein mit gewählten Stellvertretern, sondern eine sehr breite Bewegung, in der sich unterschiedliche Leute versammeln.
Trotzdem muss sich auch die Linke, und dazu gehört die Klimabewegung, ihrem Antisemitismus-Problem stellen. Da geht ein Riss durch die Linke. Ich erwarte, dass die Klimabewegung aufarbeitet, inwieweit in ihren eigenen Strukturen Antisemitismus verbreitet ist.
WELT: Dann kommen wir mal zur Aufarbeitung Ihrer Partei. Die SPD hat seit Monaten mit sinkenden Umfragewerten und zuletzt auch mit Wahlniederlagen wie in Bayern und Hessen zu kämpfen. Was sagen die Jungen in der Partei dazu? Woran liegt das?
Mohamed: Die SPD wirkt inhaltlich entkernt, mutlos, fast lethargisch. Der Erfolg bei der Bundestagswahl 2021 wird oft der Geschlossenheit der SPD zugerechnet. Das darf aber nicht bedeuten, dass wir überhaupt keine Debatten mehr innerhalb der SPD führen. Die SPD verkommt zum Pressesprecher des Kanzleramts. Kaum jemand weiß mehr, wofür die Partei steht. Scholz hat keine sichtbare sozialdemokratische Agenda.
WELT: Wo fehlt Ihnen denn die Sozialdemokratie?
Mohamed: Vor allem in der Sozialpolitik. Mich hat zum Beispiel die Debatte über die Kindergrundsicherung wütend gemacht. Da haben sich Grüne und FDP gestritten, die SPD war nur noch in der Vermittlerrolle und hatte keine eigene laute Stimme. Dabei ist die Bekämpfung von Kinderarmut ein sozialdemokratisches Thema. Wenn Herr Scholz beim Thema Abschiebungen so laut poltern kann, wieso tut er es dann nicht bei der Kinderarmut?
WELT: Auch Sie sind mit Kritik nicht gerade zurückhaltend. Auf der Plattform X kritisieren Sie Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) mit den Worten: „Die Abschiebe-Obsession nimmt überhand: Langsam brauchen wir eine Obergrenze für rassistische Gesetze.“ Wollen Sie Ihrer Partei im Ernst unterstellen, sie erlasse „rassistische Gesetze“?
Mohamed: Rassismus ist in vielen Teilen unserer Gesellschaft ein strukturelles Problem. Das heißt nicht, dass die Personen per se Rassisten wären, aber es können alle Menschen rassistisch handeln. Und das kann sich auch in Gesetzen widerspiegeln. Jetzt sprechen wir über ein Gesetzespaket, das die Abschiebehaft verlängern soll und willkürliche Durchsuchungen bei Geflüchteten ermöglicht. Das halte ich für rassistisch. Diese Menschen sind erst mal Schutzsuchende. Das sind keine Verbrecher.
WELT: Nun kritisieren Sie aber nicht die Opposition, sondern sprechen von Rassismus in der eigenen Partei. Wie kann das die SPD stärken?
Mohamed: Wir müssen uns als Gesellschaft mit unseren eigenen Rassismen auseinandersetzen. Das will ich auch von der SPD. Faeser und Scholz schlagen einen gefährlichen Kurs ein. Es ist wichtig, dagegen etwas zu sagen. Es gibt viele, die die SPD nicht mehr wiedererkennen, sie müssen sehen, dass es auch noch andere Stimmen in der Partei gibt.
WELT: Sie beschreiben sich selbst als „queere Schwarze Frau, die mit Hartz IV im Ruhrgebiet aufgewachsen ist“. Nun kandidieren Sie für den Bundesvorsitz der Jusos, über den im November auf dem Bundeskongress abgestimmt wird. Inwieweit beeinflusst Ihre eigene Biografie Ihre Politik?
Mohamed: Ich bin in Armut aufgewachsen, das hat mich stark geprägt. Ich habe fünf kleine Schwestern, meine Mutter ist alleinerziehend, wir haben von Hartz IV gelebt. Da fehlt es einem an allen Ecken und Enden. Man merkt schnell, dass man nicht so aufwächst wie andere Kinder. Da geht es nicht bloß um so etwas wie Urlaub machen, sondern es bedeutet zum Beispiel, dass nicht jeden Winter für alle eine Winterjacke und Winterschuhe da sind, es reicht nicht für ein Eis im Sommer oder dafür, ins Freibad zu gehen. Das hat mich sehr früh dafür sensibilisiert, dass sich viel um Geld dreht – im negativen Sinne.
Aber auch das Thema Rassismus war als Kind schwer zu verstehen. Ich habe die Welt als ungerecht empfunden, und daraus ist das Bedürfnis entstanden, politisch etwas zu verändern.