Sunday, November 26, 2023

Abstimmung auf dem Parteitag: Die Grünen und die Asylfrage: Plötzlich geht es um alles

STERN Abstimmung auf dem Parteitag: Die Grünen und die Asylfrage: Plötzlich geht es um alles Geschichte von Lisa Becke • 4 Std. Parteichefin Lang, Vizekanzler Habeck, Ministerin Baerbock: Die Parteiführung steht für "Humanität und Ordnung". Auf dem Parteitag in Karlsruhe debattieren die Grünen zu später Stunde hitzig über den richtigen Kurs in der Asylpolitik. Für die Parteispitze sieht es zwischenzeitlich knapp aus – sie will die Stimmung nun als einen Auftrag verstanden wissen. Wie ernst die Lage ist, wie gespalten die Grünen in der Frage nach der richtigen Asylpolitik sind, zeigt sich am späten Samstagabend an der Abstimmung über eine Überschrift. "Humanität und Ordnung", so will der Bundesvorstand das Kapitel zu Asyl und Migration für das Europawahlprogramm überschreiben. RDas klingt zu konservativ, zu sehr nach CDU, finden viele bei den Grünen. Sie wollen, dass stattdessen "Humanität und Menschenrechte" drübersteht. Man könnte es für spitzfindige Wortklauberei halten. Nur wäre das zu kurz gegriffen. "Humanität und Ordnung" ist nicht einfach eine Überschrift, die beiden Worte beschreiben den Kurs, den die Parteispitze in der Migrationsdebatte fährt. So hat ihn etwa die Co-Vorsitzende Ricarda Lang in einem gemeinsamen Gastbeitrag mit dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann ausbuchstabiert. Darin steht unter anderem: "Steuerung und Rückführung" gehörten zur Realität eines Einwanderungslandes wie Deutschland dazu. "Wenn die Kapazitäten – wie jetzt – an ihre Grenzen stoßen, müssen auch die Zahlen sinken", heißt es dort auch. Diese Ansage gruselt manchen Parteilinken. Auf dem Parteitag in Karlsruhe fällt die Abstimmung über diesen Titel, der den Kurs beschreibt, denkbar knapp aus. Für beide Vorschläge gehen annähernd gleich viele Hände in die Höhe. Es braucht drei Anläufe, bis sich das Präsidium sicher ist: Die Mehrheit der 800 Delegierten will die "Ordnung" im Begriffspaar nicht gegen die "Menschenrechte" tauschen. Gerade noch gutgegangen für die Grünen-Spitze. Der Aufwand, den sie dafür betreiben musste, war erstaunlich: Die Parteichefin, die Außenministerin und der Vizekanzler hatten schon mit dem Bruch der Koalition gedroht – und trotzdem fehlten am Ende nur wenige Hände, und es wäre ganz anders gekommen. Die umstrittene Überschrift zielt auf den Kern der Debatte, wie sich die Grünen als Regierungspartei in dieser Zeit positionieren sollen. Einer Zeit, in der das Thema Migration von vielen Menschen als das drängendste Problem gesehen wird. In der Kommunen darüber klagen, an der Grenze ihre Belastungsfähigkeit zu sein. In der nicht nur die Opposition den Druck hochhält, sondern auch Kanzler Olaf Scholz einen merklich härteren Ton vorgibt. "Wir müssen endlich im großen Stil abschieben", hatte der SPD-Politiker kürzlich im "Spiegel" gesagt. Die Grünen streiten: Passt das zur "DNA" der Partei? Für das grüne Spitzenpersonal ist klar: Es gehe darum, die Probleme anzunehmen und sich bei deren Lösung in der "Realität zu verorten". Sich klar zu sein, dass man zwar manches nicht gut finde, was man in der Koalition mit SPD und FDP mittrage, dass für geflüchtete Menschen aber deutlich weniger erreicht werde, wenn Grüne nicht mehr mit am Tisch säßen. Es ist der vielbeschworene "Kurs der Mitte", das Werben dafür, sich für die gesellschaftliche Breite attraktiv zu machen, indem man sich im Regierungshandeln auch mal stark von ursprünglich grünen Positionen entfernt. Im Antrag des Bundesvorstands klingt das so: "Auch wenn wir Punkte, wie etwa die geplante Verlängerung des Grundleistungsbezugs des Asylbewerberleistungsgesetzes oder die Prüfung von Asylverfahren in Transit- und Drittstaaten kritisieren: Unsere Demokratie ist stark und muss dies durch ihre Lösungskompetenz und Handlungsfähigkeit zeigen." Was konkret eben auch bedeutet, die hohen Flüchtlingszahlen durch "rechtsstaatliche und menschenwürdige Maßnahmen" zu reduzieren. Nur passt diese Position zur "grünen DNA"? Zum Selbstverständnis einer Partei, die sich auf die Holzaufsteller in der Messehalle in Karlsruhe schreibt, dass sie für "Mehr Asyl" und "Mehr Willkommen" steht? Zu einer Partei, die gerade 2016 – mitten in der sogenannten Flüchtlingskrise – einen deutlichen Mitgliederzuwachs erfuhr? Zu einer Partei, in der sich viele bis heute in der Flüchtlingshilfe engagieren? Die Grüne Jugend findet "Nein". Sie hatte einen Änderungsantrag eingebracht, der die Grünen in Regierungen und Fraktionen in Bund und Ländern dazu verpflichten sollte, keinerlei "Asylrechtsverschärfungen" zuzustimmen – weder einer "Kürzung von Sozialleistungen für Geflüchtete" noch der "Unterbringung von Flüchtenden in Außengrenzlagern". Grüne Jugend: "Wer Rechten hinterherläuft, der gerät ins Stolpern" Die Co-Vorsitzende Katharina Stolla ruft den Delegierten zu: "Unmenschliche Asylpolitik ist keine Realität, das ist eine politische Entscheidung. Wer Rechten hinterherläuft, der gerät ins Stolpern." Deshalb sei der Kurs nicht nur moralisch, sondern auch strategisch falsch für die Grünen. Ja, die gesellschaftliche Stimmung sei schlecht, ja, viele würden Geflüchtete nicht mit offenen Armen empfangen. Den Grünen müsse es aber darum gehen, diese gesellschaftliche Stimmung wieder zu drehen. Viele der folgenden Reden, gerade von jungen Leuten, rufen dazu auf, den Antrag der Grünen Jugend zu unterstützen. Die Debatte droht der Parteitagsregie zu entgleiten. Man kann es daran erkennen, dass die Parteispitze schließlich ihre Top-Leute auf die Bühne schickt, um gegen den Antrag der Grünen Jugend zu argumentieren: Robert Habeck, Annalena Baerbock, Ricarda Lang. Man kann es auch daran erkennen, dass einige von ihnen mahnen, dass sich "Jubelrufe", eine Stimmung wie im "Fußballstadium" in so einer ernsten Debatte verbieten. Sie fürchten, manchen Gegnern gehe es vorrangig darum, der Führung eine Niederlage zu bereiten. Es gehört zur Logik grüner Parteitage, dass sich Unmut ein Ventil sucht. Lang: "Ihr wollt uns kämpfen sehen" Und schließlich erkennt man es daran, dass sie ihre Reden mit der größtmöglichen Dramatik aufladen: Sie erklären die Abstimmung der Delegierten zur Entscheidung über den Verbleib der Grünen in der Regierung. Käme der Antrag durch, gäbe es für sie nichts mehr zu verhandeln, dann müsste man letztlich die Koalition verlassen. Die Grüne Jugend beteuert zwar, dass es ihr darum nicht gehe. Sie will, dass die Regierungsgrünen die Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, nachverhandeln. Fest steht: Der Beschluss hätte schwere Fußfesseln für die Regierenden bedeutet. Aber es kommt anders: Die Mehrheit stimmt nach langer Debatte, es ist schon 23.05 Uhr, gegen den Antrag der Grünen Jugend. Die Entscheidung fügt sich damit ein in das allgemeine Stimmungsbild, das die Grünen auf diesem viertägigen Parteitag abgeben: Die Delegierten geben ihrem Führungspersonal Rückendeckung, sie wählen ihre bisherige Doppelspitze aus Ricarda Lang und Omid Nouripour mit guten Werten wieder. Die Grünen im Jahr 2023 wollen nicht krawallig, sie wollen staatstragend sein. Doch eines macht die Debatte dennoch deutlich: Die grüne Basis sehnt sich in der Asyldebatte nach mehr grünen Standhaftigkeit, sie wünscht sich eine Abgrenzung vom gegenwärtigen Regierungskurs. Dieses Signal sei angekommen, betonen die grünen Entscheidungsträger in ihren Reden. Die Stimmung im Saal zeige ihm, dass auch "Kompromisse Grenzen haben", sagt Habeck. Es werde ihnen darum gehen, in den Verhandlungen mehr für die Grünen rauszuholen: "Ihr wollt uns kämpfen sehen und wir werden kämpfen", ruft Lang in die Menge. Sie bekommt dafür viel Applaus. Nur unter Beweis stellen müssen sie das noch: Die erste Möglichkeit dazu bietet sich schon am Donnerstag. Dann wird das sogenannte Rückführungsverbesserungsgesetz, das Abschiebungen erleichtern soll, in den Bundestag eingebracht. Der Entwurf sieht vor, dass der Ausreisegewahrsam von zehn auf 28 Tage verlängert werden kann, Behörden auf der Suche nach einem "abzuschiebenden Ausländer" in Gemeinschaftsunterkünften auch andere Zimmer betreten dürfen. Die Mitglieder werden genau darauf schauen, was die Grünen im Bundestag da noch für sie rausholen können.