Saturday, October 2, 2021
Wählen auf Berlinerisch
WELT
Sascha Lehnartz vor 3 Std.
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Der Berliner Landeswahlleiterin Petra Michaelis darf man zugestehen, dass sich ihr Problembewusstsein zwischen Sonntagabend und Mittwochnachmittag weiterentwickelt hat. Drei Tage, nachdem die Wahl in der Hauptstadt stellenweise zur Farce geraten war, trat sie zurück. „Ich übernehme die Verantwortung im Rahmen meiner Funktion als Landeswahlleiterin für die Umstände der Wahldurchführung am 26.9.2021“, teilte Michaelis mit und bat um ihre Abberufung.
Die Landeswahlleiterin ist zurückgetreten. Immer noch offen ist die Frage, ob das Wahlergebnis anfechtbar ist.
Vorausgegangen waren immer neue, immer haarsträubendere Meldungen über Unregelmäßigkeiten und Unzulänglichkeiten, die Zweifel an der Belastbarkeit der Berliner Wahlergebnisse aufkommen lassen. Der Staatsrechtler Christian Waldhoff, der an der Humboldt-Universität lehrt und als Wahlhelfer im Stadtteil Wedding im Einsatz war, zeigte sich in seinem „Verfassungsblog“ entsetzt von der „Gedankenlosigkeit derjenigen, die diese Wahlen in Berlin organisiert haben“. Damit meinte er auch Michaelis.
Die zahlreichen Behinderungen bei der Stimmabgabe hätten den „Grundsatz der Freiheit der Wahl“ beeinträchtigt. Schlimmer noch: „Dass in der Hauptstadt eines der wichtigsten, reichsten und entwickeltesten Länder der Erde es nicht möglich erscheint, demokratische Wahlen angemessen zu organisieren, ist nicht nur für die Berlinerinnen und Berliner peinlich, sondern zugleich ein gravierendes Demokratieproblem“, konstatierte Waldhoff. Die Gültigkeit der Wahl zweifelte er jedoch nicht an. Eine „Mandatsrelevanz“ sei „unwahrscheinlich“.
Wie hier vor einem Wahllokal im Stadtteil Prenzlauer Berg kam es am Wahltag in der Hauptstadt zu langen Warteschlangen© picture alliance/dpa Wie hier vor einem Wahllokal im Stadtteil Prenzlauer Berg kam es am Wahltag in der Hauptstadt zu langen Warteschlangen
Wahlergebnisse wurden in einem Bezirk „geschätzt“
Doch die Zahl der Hinweise auf Pannen hat im Verlauf der Woche noch zugenommen. Am Donnerstag wurde bekannt, dass das Wahlamt von Charlottenburg-Wilmersdorf für 22 Wahllokale identische Wahlergebnisse gemeldet hatte. Die Zahlen seien „geschätzt“ gewesen, räumte der Bezirkswahlleiter Felix Lautner ein. Das genaue Ergebnis werde „nacherfasst“. In 99 Lokalen war die Zahl der ungültigen Stimmen ungewöhnlich hoch.
„Umstände der Wahldurchführung“ sind da ein eher beschönigender Begriff für bezirksübergreifendes Chaos. Stundenlang standen Menschen Schlange, manchen gelang es erst lange nach der offiziellen Schließung der Wahllokale um 18 Uhr, ihre Kreuze zu machen – als die ersten Hochrechnungen längst über die Bildschirme liefen.
Wartende in langer Schlange vor einem Wahllokal im Berliner Bezirk Mitte Quelle: dpa© dpa Wartende in langer Schlange vor einem Wahllokal im Berliner Bezirk Mitte Quelle: dpa
Andere gaben auf, nachdem sie Stunden in der Schlange verbracht hatten und die Kinder auf den Armen ihrer wahlberechtigten Eltern eingeschlafen waren. Schon gegen Mittag waren in manchen Wahllokalen die Wahlzettel ausgegangen. Nachschublieferungen blieben im dichten Verkehr stecken, weil es Zuständigen im Vorfeld nicht aufgefallen war, dass es keine gute Idee war, drei Wahlen, eine Volksabstimmung und einen Berlin-Marathon am selben Sonntag abzuhalten.
In Dutzenden Wahllokalen im Bezirk Kreuzberg-Friedrichshain stellte man überrascht fest, dass hier Wahlscheine für Charlottenburg-Wilmersdorf ausgegeben wurden. Doch noch am Montag bezeichnete Landeswahlleiterin Michaelis diese „Umstände der Wahldurchführung“ als „relativ normal“.
Dem staunenden Publikum erklärte sie, die Wartezeiten hätten sich „im Rahmen des Üblichen“ bewegt, die Stimmzettel seien „in der Theorie vorhanden“ gewesen. Wieso sie in der Praxis dann fehlten, bleibe ihr „unverständlich“, so Michaelis, die eigentlich Abteilungsleiterin beim Landesrechnungshof ist. Für das Ehrenamt der Landeswahlleiterin ist sie dort freigestellt.
Den Bezirksämtern sei eine Menge von Wahlzetteln zur Verfügung gestellt worden, die „110 bis 120 Prozent“ des Bedarfs abdeckten. Wenn diese nicht angekommen seien, seien wohl die Bezirkswahlämter zuständig, suggerierte Michaelis. „Es war sicherlich eine Situation, die an Überforderung grenzte.“ Auch noch am Dienstagabend versuchte Michaelis im RBB-Fernsehen, Verantwortung auf die Bezirkswahlämter abzuschieben. Sie wolle aber natürlich keine Schuldzuweisungen machen, weil die armen Bezirkswahlämter „heillos überlastet“ seien.
Berliner bestätigen unbeliebteste Landesregierung
Dass Ämter in diesem chronisch defekten Gemeinwesen namens Berlin überlastet und überfordert sind, kann jeder Bewohner mit eigenen Erlebnisgeschichten untermauern. In einer Stadt, die Termine für Behördengänge per Online-Bingo-Spiel vergibt, erstaunt es niemanden, dass eine Wahl nicht pannenfrei verläuft.
Die Inkompetenz-Toleranz der Berliner („Dit is halt Berlin“) scheint unverändert hoch. Anders als mit einem Hang zu Masochismus ist kaum zu erklären, dass eine Wählerschaft, die zu 60 Prozent mit dem rot-rot-grünen Senat unzufrieden ist, die Parteien ebendieser unbeliebtesten Regierung in Deutschland mit einem besseren Ergebnis als vor fünf Jahren bestätigt. 54,3 Prozent haben die Parteien dieses Bündnisses erneut gewählt, zwei Prozent mehr als 2016.
Wer sich gern selbst geißeln lässt, darf sich nicht wundern, wenn er geschlagen wird. Bei der Pressekonferenz am Montag hatte Michaelis keck die Wähler dafür verantwortlich gemacht, dass diese nicht performten wie erwartet. Sie hätten sich halt auf „Vielfach-Ereignisse“ einstellen und im Vorfeld mit den komplexen Stimmzetteln vertraut machen sollen. Die Wahlkabinen seien „relativ lange in Anspruch genommen“ worden. Diese Beobachtung ist nicht einmal falsch. Die Berliner mussten sechs Kreuze auf fünf verschiedenen Stimmzetteln machen, weil drei Wahlen und ein Volksentscheid gleichzeitig abgehalten wurden.
Gut möglich, dass sich da die eine oder der andere noch in der Wahlkabine fragte, wozu eine Bezirksverordnetenversammlung da ist oder wieso zwischen der Kostenschätzung der Initiative zur „Vergesellschaftung der Bestände aller privatwirtschaftlichen Wohnungsunternehmen mit über 3000 Wohnungen im Land Berlin“ und der amtlichen Kostenschätzung des Senats knappe 32 Milliarden Euro liegen: Während die Initiatoren mit 7,3 Milliarden Euro Kosten für den Rückkauf von 200.000 Wohnungen kalkulieren, geht der Senat von bis zu 39 Milliarden Euro aus.
2004 hatte der damalige SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin 65.000 städtische Wohnungen zum Preis von 400 Millionen Euro verkauft. Offensichtlich vertrauten die Wähler dem Optimismus der Enteignungsenthusiasten: 56 Prozent der Berliner, also fast eine Million Wähler, stimmten für eine Initiative, die, wenn sie entgegen allen juristischen und ökonomischen Einwänden jemals umgesetzt werden sollte, vor allem bewirken wird, dass Berlin das Geld für dringend benötigte Neubauten fehlen wird.
Nun ist dieses Problem eines, das sich die Berliner Wähler selbst eingebrockt haben. Das größere ist jenes, das der Staatsrechtler Waldhoff umreißt: Wer Wahlen dermaßen schlampig organisiert, muss sich nicht wundern, wenn die Zahl derjenigen wächst, die die Demokratie infrage stellen.