Sunday, November 26, 2023
Zankapfel Antisemitismus: Ist der deutsche Kulturbetrieb noch zu kitten?
Berliner Zeitung
Zankapfel Antisemitismus: Ist der deutsche Kulturbetrieb noch zu kitten?
von Harry Nutt • 1 Std.
Aktivismus und Kunst: während einer Protestveranstaltung
Das kurz nach dem 7. Oktober beklagte „dröhnende Schweigen“, mit dem ein Mangel an Empathie gegenüber den Opfern des brutalen Anschlags der palästinensischen Terrororganisation Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung beklagt wurde, ist umgekippt in nervösen Aktivismus. In offenen Briefen wird auf offene Briefe reagiert, und je nach politischer Gefechtslage werden problematische Begriffe wie Genozid und Apartheid herausgeschleudert wie rhetorische Geschosse oder als kommunikatives Vergehen sanktioniert.
Der Kulturbetrieb befindet sich in Aufruhr und gesteigerter Verunsicherung, und die Liste gestrichener Konzerte, Podien und Ausstellungen wird länger. Zuletzt wurde die Biennale für aktuelle Fotografie in Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg abgesagt, nachdem einer der Kuratoren, der bangladeschische Fotograf Shahidul Amal, „antisemitisch lesbare und antisemitische Inhalte“ (so die Diktion der Veranstalter) auf Facebook geteilt hatte und „den Bitten für einen sensibilisierten Umgang mit seinen Posts nicht folgen“ wollte. Was im Einzelfall nachvollziehbar oder bedauerlich erscheinen mag, lässt innerhalb der deutschen Kulturszene das Muster eines Handlungsdilemmas erkennen, das nicht nur das Selbstverständnis zahlreicher Veranstaltungen und Einrichtungen infrage stellt, sondern immer öfter auch die Existenzfrage aufwirft.
Am deutlichsten wurde dies am Beispiel der alle fünf Jahre stattfindenden Kunstausstellung Documenta in Kassel, die sich nach dem Antisemitismusskandal der 15. Ausgabe im Sommer 2022 bei der personellen Besetzung einer Findungskommission für die kommende Ausstellung erneut mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert sah. Im Gespräch mit der Tageszeitung Die Welt weist Roger M. Buergel, der als früherer Documenta-Leiter an der Bestellung der Findungskommission beteiligt war, eine kleinliche Haltung, mit der nach der problematischen Gesinnung möglicher Kandidaten gefahndet wird, zurück. „Wir haben deutlich gemacht“, erklärt Buergel seine Rolle, „dass es eine rote Linie gibt, aber nicht erkennungsdienstlich nach Unterschriften auf Petitionen gefahndet.“ Der indische Kurator Ranjit Hoskoté, der aufgrund einer Unterschrift unter einer antisemitischen Petition in die Kritik geraten war, zeigte allerdings wenig Bereitschaft, sich auf Richtlinien einer sensibilisierten Documenta festlegen zu lassen.
Er verließ das Gremium krawalllustig, indem er kurzerhand die Kunstfreiheit der Documenta bestritt. Das Dilemma, das über die Personalie Hoskoté hinaus besteht, brachte die Friedens- und Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff, die an einem Bericht zur Aufarbeitung der Documenta Fifteen mitgewirkt hat, auf den Punkt. Man könne, so Deitelhoff, nicht ein bisschen Antisemitismus zulassen, um anderen, im internationalen Kunstbetrieb möglicherweise vorherrschen Sichtweisen gerecht zu werden. Dazu gehören längst auch doppelte Standards in Bezug auf den hehren Begriff der Kunstfreiheit, von dem einerseits erwartet wird, beinahe alles zu ermöglichen, der aber mühelos über Bord geworfen wird, wenn es darum geht, die Aktivitäten der Boykottorganisation BDS mit all der akkumulierten Autorität des internationalen Kunstgeschehens zu unterstützen.
Roger M. Buergel sieht das deutlich gelassener. Er glaube nicht an eine Verwaltungslogik von Bürokratisierung und Transparenz. Das Künstlerische könne einem immer um die Ohren fliegen. „Manchmal ist es besser, einen Skandal zu haben, der auch etwas über die Gegenwart erzählt, wenn man den Ball – also die Energie und die Aufmerksamkeit – aufnimmt, um die Lage zu gestalten.“
Wie aber lässt sich ein von Buergel propagierter Mut zum Risiko mit künstlerischen Äußerungen in Einklang bringen, die zuletzt im Verdacht standen, politischer Propaganda der schlimmsten Sorte das Wort zu reden? Elke Buhr, die Chefredakteurin der Kunstzeitschrift Monopol, argumentiert zunächst einmal mit der zuletzt scheinbar in Vergessenheit geratenen Feststellung, dass Künstler nicht identisch sind mit ihrer Kunst. Die Omnipräsenz der sozialen Medien und deren Dynamik, so Buhr im Deutschlandradio Kultur, habe zur Vergiftung einer Atmosphäre beigetragen, in der die genuine Qualität von Kunst in eine Art Konkurrenz zum rasenden Bekenntniszwang geraten sei.
Tatsächlich sollte trotz anhaltender kriegerischer Konflikte, bei deren Bewertung Emotionen und Argumente zuletzt kaum voneinander zu unterscheiden waren, die Zeit für ein diskursives Innehalten gekommen sein. Es ist jedenfalls nicht ganz nachvollziehbar, warum seitens der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) ein für den Dezember geplantes Symposium mit dem Titel „We still need to talk“ abgesagt wurde, bei dem über eine „relationale Erinnerungskultur“ debattiert werden sollte.
Zweifellos haben die Ereignisse vom 7. Oktober sowie deren Folgen auch die Debatten im akademischen Raum unter Spannung gesetzt. Gerade jetzt aber wäre es geboten, sich mit geschärftem Bewusstsein über historische Konstellationen und Begriffe zu verständigen, die zuletzt phrasenhaft und inflationär in einem Lagerkonflikt zwischen postkolonialer Theoriebildung und vermeintlich eurozentrischen Sichtweisen zirkulierten.
Sollte es nicht möglich sein, eine Übereinkunft darüber zu erzielen, dass die militärischen Operationen der israelischen Armee in Gaza und der Vernichtungswille der Hamas nicht ein und derselben, unbedingt zu verwerfenden genozidalen Logik angehören können? Und käme es nicht gerade jetzt darauf an, die Kunst von zwanghaften Bekenntnissen und begrifflichen Korsetts zu befreien? Nicht zuletzt bedarf es dringend eines veränderten Verständnisses von Befreiung. Wenn die monströsen Attacken der Hamas eines gezeigt haben, dann doch wohl die Unvereinbarkeit menschenverachtender Gewalt mit der Idee einer befriedeten Zeit danach.
Entgegen der Häme, mit der zuletzt genüsslich auf einen sich selbst provinzialisierenden deutschen Kulturbetrieb geblickt wurde, sollte dringend nach vermittelnden Positionen und Instanzen gesucht werden, denen künstlerische Artikulation wichtiger ist als momentanes Rechthaben in einem Konflikt, in dem es scheinbar schwerfällt, dem Phänomen des Antisemitismus die gleiche Aufmerksamkeit einzuräumen wie anderen Formen der Diskriminierung und Ausgrenzung.